Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Erstattungsanspruch des nachrangig verpflichteten Leistungsträgers. Vorrang der Sozialhilfe vor der Kinder- und Jugendhilfe nach § 10 Abs 4 S 2 SGB 8. Leistungskongruenz. Kinder- und Jugendhilfe. Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege. Sozialhilfe. Eingliederungshilfe. Hilfe für die Betreuung in einer Pflegefamilie. Leistungen zum Unterhalt
Orientierungssatz
Zur Kongruenz von Hilfen zur Erziehung in Vollzeitpflege nach dem SGB 8 und Leistungen der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen nach dem SGB 12 in Form von Hilfen für die Betreuung in einer Pflegefamilie.
Tenor
Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin die für die Zeit vom 24.02.2011 bis19.05.2015 erbrachten Aufwendungen für die Vollzeitpflege des Kindes D.U. in einer Pflegefamilie in Höhe von 125.233,22 EUR zu erstatten.
Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte.
Der Streitwert wird auf 125,233,22 EUR festgesetzt.
Tatbestand
Die Klägerin als Träger der Jugendhilfe begehrt von der Beklagten als Träger der Sozialhilfe die Erstattung der Aufwendungen, die die Klägerin in der Zeit vom 24.02.2011 bis 19.05.2015 für die Unterbringung, Betreuung und Vollzeitpflege eines minderjährigen Kindes in einer Pflegefamilie erbracht hat, konkret 125.233,22 EUR.
Die am 00.00.0000 geborene D.U. (im Folgenden: Hilfeempfängerin/HE) ist das fünfte von inzwischen sieben Kindern ihrer Eltern; bei ihrer Geburt waren die vier älteren Geschwister bereits wegen erheblicher Erziehungsdefizite der Eltern in Heimen bzw. Pflegefamilien untergebracht. Vom 26.01. bis 24.05.2005 war die HE im Eltern-Kind-Haus des Kinderheims St. N. untergebracht. Nachdem das Amtsgericht N. durch Beschluss vom 25.04.2005 die Erziehungsunfähigkeit der Eltern festgestellt, ihnen vorläufig die Personensorge für die HE entzogen und diese dem Jugendamt der Beklagten übertragen hatte, blieb die HE ab 26.04.2005 im Kinderheim St. N. und erhielt Leistungen der Jugendhilfe. Die Kindesmutter verzog am selben Tag zum Kindesvater im Gebiet der Klägerin, sodass die Klägerin für die Jugendhilfeleistungen zuständig wurde. 2006 wurde den Eltern endgültig die Personensorge entzogen (Beschluss des Amtsgerichts N. vom 15.08.2006).
In einem Gutachten, das im Mai 2008 zur Klärung eines sonderpädagogischen Sonderbedarfs erstellt wurde, ergaben sich Defizite der HE im Sprachverhalten, in der visuellen und auditiven Wahrnehmung sowie ein erheblicher Entwicklungsrückstand. Seit August 2008 besuchte die HE eine Förderschule für Lernbehinderte, seit 2014 ist sie auf der Schule in N., einer Förderschule mit dem Schwerpunkt "Lernen". Seit dem 28.11.2008 lebt die HE in der Pflegefamilie der Eheleute C. und T ... Sie wird über Tag und Nacht im Haushalt ihrer Pflegeeltern versorgt. Die Pflegemutter ist ausgebildete Erzieherin und verfügt über eine Zusatzqualifikation als Heilpädagogin. Die Pflegeeltern erfüllen die Voraussetzungen erlaubter Vollzeitpflege gemäß § 44 Abs. 1 Achtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII).
Erstmals in einem neuropädiatrische Gutachten über die HE vom 24.03.2011 wurde aufgrund verschiedener Untersuchungen, die seit Oktober 2010 durchgeführt worden waren, insbesondere aufgrund eines Intelligenztests vom 24.02.2011 festgestellt, dass bei der HE eine Entwicklungsstörung, eine Schwerhörigkeit, Kopfschmerzen und eine Intelligenzminderung (IQ von 64) bestehen.
Daraufhin beantragte die Klägerin im Juni 2011 unter Hinweis auf eine wesentliche geistige Behinderung der HE und eine nach ihrer Auffassung sich daraus ergebende vorrangige Leistungspflicht des Sozialhilfeträgers beim Landschaftsverband Rheinland (LVR) die Erstattung ihrer Kosten und die Übernahme des Falles. Der LVR lehnte den Antrag wegen sachlicher und örtlicher Unzuständigkeit ab.
Am 21.08.2012 beantragte die Klägerin bei der Beigeladenen die Erstattung ihrer Kosten und Übernahme des Falles. Diese gab den Antrag an die Beklagte ab.
Die Beklagte lehnte durch Schreiben vom 23.04. und 09.07.2013 gegenüber der Klägerin eine Erstattung der Kosten und die Übernahme des Falles ab mit der Begründung, zwar gehöre die HE zum Personenkreis des § 53 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) und erfolge ihre Unterbringung in der Pflegefamilie in kausalem Zusammenhang mit dieser Behinderung. Jedoch begründe der behinderungsbedingte spezifische Bedarf keinen stationären Sozialhilfebedarf; es stehe nicht fest, dass die Unterbringung in der Pflegefamilie auch der Vermeidung der Unterbringung in vollstationärer Versorgung diene. Daher sei weiterhin die Jugendhilfe sachlich zuständig.
Am 23.12.2013 hat die Klägerin Klage erhoben. Sie ist der Auffassung, neben dem im streitbefangenen Zeitraum bestehenden Erziehungshilfebedarf in Form der Vollzeitpflege nach dem SGB VIII habe die HE auch einen Anspruch auf Eingliederungshilfe nach § 54 Abs. 3 SGB XII. Die Betreuung in der Pflegefamilie stelle nicht nur als Jugendhilfe, sondern auch als Eingliederungshilfe eine geeignete und notwendige Maßnahme dar. Die HE gehöre...