Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialhilferecht: Eingliederungshilfe in Form der Betreuung in einer Pflegefamilie. Vorrang der Eingliederungshilfe vor Leistungen der Jugendhilfe. Kostenerstattungsanspruch eines nachrangigen Trägers

 

Orientierungssatz

1. Sind bei der Betreuung eines behinderten Kindes in einer Pflegefamilie sowohl die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Eingliederungshilfe (hier: Hilfe  für die Betreuung in einer Pflegefamilie) als auch eines Anspruchs auf Hilfe zur Erziehung im Rahmen der Jugendhilfe gegeben, gehen die Leistungen zur Eingliederung den Jugendhilfeleistungen vor. Hat insoweit der Träger der Jugendhilfe Leistungen bereits erbracht, kann er vom Sozialhilfeträger Erstattung dieser Leistungen fordern. Dabei ist aufgrund des jeweiligen Leistungsumfangs von einer Gleichartigkeit der Leistungen auszugehen.

2. Bei der Bestimmung des Leistungsumfangs in Bezug auf Eingliederungshilfe in Form der Betreuung in einer Pflegefamilie sind die entsprechenden Regelungen des Jugendhilferechts (hier: § 39 SGB 8) analog anzuwenden.

 

Tenor

Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin die für die Zeit von November 2010 bis Juni 2014 erbrachten Aufwendungen für die Vollzeitpflege des Kindes T.N.C. in einer Pflegefamilie in Höhe von 53.577,00 EUR zu erstatten.

Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte.

Der Streitwert wird auf 53.577,00 EUR festgesetzt.

 

Tatbestand

Die Klägerin als Jugendhilfeträger begehrt von der Beklagten als örtlichem Träger der Sozialhilfe Erstattung der Kosten, die seit 01.11.2010 für die Unterbringung eines geistig und körperlich behinderten Kindes in einer Pflegefamilie angefallen sind, konkret bis Juni 2014: 53.577,00 EUR.

Die am 00.00.0000 geborene T.N.C. (im Folgenden: Hilfeempfängerin/HE) ist körperlich und geistig behindert, erheblich pflegebedürftig mit entsprechenden Leistungen der Pflegekasse nach Pflegestufe I und als Schwerbehinderte anerkannt nach einem Grad der Behinderung von 100 (Merkzeichen G, B, H). Sie leidet u.a. an einer beidseitigen Schwerhörigkeit, die durch Hörgeräte nur unvollständig ausgeglichen ist, einem Sehfehler, einem Dyspraxiesyndrom und einer starken kognitiven Entwicklungsverzögerung. Im Januar 2010 wurde bei ihr ein Intelligenzquotient (IQ) von 47 festgestellt.

Im Januar 2008 wurde den leiblichen Eltern der HE wegen Gefährdung des Kindeswohls die elterliche Sorge entzogen und auf das Jugendamt der Beigeladenen als Vormund übertragen (Beschlüsse des Amtsgerichts Aachen vom 27.01.2008 und 03.04.2009 - 220 F 40/08 EASO). Der Grund hierfür waren eine festgestellte Erziehungsunfähigkeit des - wegen Kindesmisshandlung bereits vorbestraften - Vaters und zahlreiche Defizite der Erziehungskompetenz der Mutter.

Seit dem 29.01.2008 ist die HE in einer Pflegefamilie untergebracht. Sie wird über Tag und Nacht im Haushalt ihrer Pflegeeltern versorgt; die Pflegemutter ist ausgebildete Erzieherin. Die Pflegeeltern haben keine Erlaubnis nach § 44 Abs. 1 Satz 1 Achtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII); sie bedürfen einer solchen Erlaubnis nicht, weil sie Kinder im Rahmen von Hilfe zur Erziehung/Eingliederungshilfe aufgrund einer Vermittlung durch das Jugendamt über Tag und Nacht aufgenommen haben (§ 44 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB VIII). Der Verbleib in der Pflegefamilie ist auf Dauer angelegt. Von den Jugendhilfeträgern wurde und wird Hilfe zur Erziehung durch Unterbringung in einer Erziehungsstelle in Vollzeitpflege gem. §§ 27, 33 SGB VIII erbracht. Seit 29.01.2008 von der Beigeladenen, seit 29.01.2010 aufgrund Zuständigkeitswechsels nach § 86 Abs. 6 SGB VIII von der Klägerin. Nach dem Kindergarten besucht die HE inzwischen die Schule für geistig Behinderte in I ...

Mit Schreiben vom 18.10.2012 beantragte die Klägerin sowohl gegenüber dem Landschaftsverband Rheinland (LVR) als auch gegenüber der Beklagten u.a. die Erstattung ihrer seit 01.11.2010 angefallenen Kosten für die Betreuung der HE in einer Pflegefamilie.

Am 03.11.2010 lehnte der LVR den Antrag mangels Zuständigkeit ab. Er verwies darauf, die Betreuung in Pflegefamilien gem. § 54 Abs. 3 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) sei keine vollstationäre, sondern eine ambulante Leistung, für die der örtliche Träger der Sozialhilfe sachlich zuständig sei.

Mit Schreiben vom 24.06.2011 und 31.10.2012 lehnte auch die Beklagte den Kostenerstattungsantrag ab. Sie nahm auf einen Erlass des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales vom 12.07.2010 und ein Rundschreiben des Landkreistages NRW vom 14.10.2010 Bezug; in diesen sei klar gestellt worden, dass der neue Tatbestand des § 54 Abs. 3 SGB XII keine Auswirkungen auf das geltende Recht der Kinder- und Jugendhilfe nach dem SGB VIII habe. Soweit Hilfe zur Erziehung notwendig sei, sei diese für alle Kinder und Jugendlichen - unabhängig davon, ob sie behindert seien und welche Art der Behinderung vorliegen - nach dem SGB VIII zu gewähren.

Am 11.06.2013 hat die Klägerin Klage erhoben. Sie verweist auf die Konkurrenzregelung des § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII. Danach gingen Leistungen der E...

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