Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Hilfsmittelversorgung. Blindenführhund. unmittelbarer Behinderungsausgleich. - Erschließung des Nahbereiches. Grundbedürfnis des täglichen Lebens. Gebrauchsvorteil gegenüber Blindenlangstock
Orientierungssatz
1. Zum Anspruch auf Versorgung mit einem Blindenführhund bei Erblindung infolge einer myopischen Makuladegeneration mit einem Visus unter 0,02 beschränkt auf punktuelle Restsehinseln.
2. Bei der Versorgung mit einem Blindenführhund handelt es sich nach der Rechtsprechung des BSG vom 25.2.1981 - 5a/5 RKn 35/78 = BSGE 51, 206 = SozR 2200 § 182b Nr 1 und der herrschenden Rechtsprechung um einen unmittelbaren Behinderungsausgleich. Bezugspunkt der Erforderlichkeit ist insofern der Ausgleich der Körperfunktion des Sehens - ohne räumliche Einschränkung auf den Nahbereich. Die Kammer sieht keinen Anlass von der Rechtsprechung des BSG abzuweichen.
3. Zu den Vorteilen eines Blindenführhundes gegenüber einem Blindenlangstock.
4. Das Grundbedürfnis der Erschließung des Nahbereiches darf gerade in Bezug auf die Art und Weise, wie sich Versicherte den Nahbereich der Wohnung zumutbar und in angemessener Weise erschließen, nicht zu eng gefasst werden (vgl BSG vom 7.5.2020 - B 3 KR 7/19 R = SozR 4-2500 § 33 Nr 54). Dies folgt unter Beachtung der Teilhabeziele (vgl § 11 Abs 2 S 3 SGB 5), insbesondere ein selbstbestimmtes und selbstständiges Leben zu führen, aus dem verfassungsrechtlichen Benachteiligungsverbot (Art 3 Abs 3 S 2 GG) als Grundrecht und objektive Wertentscheidung iVm dem Recht auf persönliche Mobilität nach Art 20 UN-Behindertenrechtskonvention (juris: UNBehRÜbk) (vgl BVerfG vom 30.1.2020 - 2 BvR 1005/18 = juris RdNr 35ff). Den Sicherheitsaspekt betreffend wird dies durch die Wertentscheidungen aus Art 2 Abs 2 S 1 GG (Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit) flankiert.
Tenor
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 12.08.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.07.2020 verurteilt, die Klägerin mit einem Blindenführhund zu versorgen.
Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin dem Grunde nach.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Versorgung mit einem Blindenführhund.
Die am 20.11.1955 geborene Klägerin ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert.
Sie ist infolge einer myopischen Makuladegeneration mit einem Visus unter 0,02 beschränkt auf punktuelle Restsehinseln erblindet. Vom 18.06.2018 bis 19.02.2019 erhielt die Klägerin 16 Schulungseinheiten Orientierungs- und Mobilitätstraining, davon eine Einheit in der Dämmerung.
Am 07.04.2019 beantragte die Klägerin unter Vorlage eines Kostenvoranschlages und einer Bescheinigung des sie behandelnden Augenarztes die Versorgung mit einem Blindenführhund bei der Beklagten.
Unter dem 24.04.2019 forderte die Beklagte bei der Klägerin Unterlagen zur Einholung einer Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) an, u.a. eine Bestätigung der Führhundschule zur Eignung der Klägerin. Nach Eingang der Unterlagen erstatte der MDK unter dem 01.08.2019 sein Gutachten. U.a. auf Grundlage einer telefonischen Rücksprache mit der Lehrerin der Klägerin für das Orientierungs- und Mobilitätstraining erscheine die Klägerin in der Lage, sich aufgrund Ihres Restsehvermögens und ihrer hohen Selbstständigkeit im nahen Wohnumfeld unter Nutzung des Blindenlangstockes zu orientieren. Probleme in der Dämmerung seien nachvollziehbar, hierfür aber zusätzliche Schulungen des Orientierungs - und Mobilitätstrainings ebenso ausreichend wie zur sicheren Umgehung unerwarteter Hindernisse. Soweit die Klägerin außerdem nachvollziehbar darlege, dass sie ihre Enkeltochter vom Kindergarten abholen und aufgrund ihres politischen und ehrenamtlichen Engagements zu unterschiedlichen Zeiten an verschiedenen Orten sein wolle, zählten diese Aktivitäten nicht zu den Grundbedürfnissen und ihre Ermöglichung liege außerhalb der Zuständigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung.
Mit Bescheid vom 12.08.2019 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin unter Bezugnahme auf die Auffassung des MDK ab.
Hiergegen legte die Klägerin am 30.08.2019 Widerspruch ein. Gerne nehme sie weiteres Mobilitätstraining zur Verbesserung der Sicherheit mit dem Langstock in Anspruch. Allerdings werde selbst ein perfekter Umgang mit dem Langstock die Vorteile des Blindenführhund nicht wegfallen lassen. Dies betreffe Situationen wieder sicheres Gehen bei unterschiedlicher Witterung, das Überqueren breiter Straßen und großer Plätze sowie das Auffinden von Treppen, Aufzügen und Türen in fremder Umgebung. Ihren Widerspruch ergänzte die Klägerin auf Bitte der Beklagten durch Vorlage von Stellungnahmen des behandelnden Augenarztes und ihrer Orientierungs- und Mobilitätstrainerin, die beide die gewünschte Versorgung befürworteten. Die Trainerin führte aus, mit dem Einsatz eines Führhundes werde im Vergleich zum Einsatz eines Langstockes ein weit höherer Grad an Behinderungsausgleich erreicht. Der Sehsinn des Hundes trete dabei unmittelb...