Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialhilfe. Hilfe bei Krankheit. Leistungsausschluss für Ausländer ohne Aufenthaltsrecht. Unionsbürger. Verlustfeststellung
Orientierungssatz
Solange nicht von der zuständigen Behörde die Feststellung des Verlustes (oder Nichtbestehens) des Aufenthaltsrechts eines EU-Ausländers getroffen ist, hat er ein Aufenthaltsrecht und ist er keinem Leistungsausschluss gemäß § 23 Abs 3 S 1 Nr 2 Alt 1 SGB 12 ausgesetzt.
Nachgehend
Tenor
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 21.03.2019 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 15.07.2019 verurteilt, der Klägerin 166,47 EUR zu zahlen. Die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin trägt die Beklagte. Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über einen Anspruch auf Erstattung der Aufwendungen der Kläge-rin als Nothelfer gem. § 25 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) für eine ambulante Behandlung am 08.03.2019 in Höhe von 166,47 EUR.
Der am xx.xx.xxxx geborene polnische Staatsangehörige F. K. X. (im Folgenden: Patient) ist obdachlos und ohne festen Wohnsitz. Er hat ständig wechselnde Aufenthalte in Deutschland, den Niederlanden, Belgien, Luxemburg und der Schweiz. In Aachen hält er sich häufig im Obdachlosen-"Cafe Plattform" auf. Er ist weder privat noch gesetzlich kran-kenversichert. Er ist bedürftig im sozialhilferechtlichen Sinne. Er erhält keine laufenden Sozialleistungen. Er leidet an psychischen und Verhaltensstörungen, Leberzirrhose und chronischer Bauchspeicheldrüsenentzündung als Folge einer Alkoholsucht sowie anderen Krankheiten. In den vergangenen Jahren wurde er häufig und wiederholt aus unterschied-lichen Anlässen durch Polizei und Rettungsdienst in die Notaufnahme verschiedener Kran-kenhäuser gebracht und dort teils stationär, teils ambulant behandelt. Der Patient hatte bei seinen verschiedenen Krankenhausaufenthalten bei ihr nicht über die notwendigste Grundausstattung verfügt, weshalb ihm immer wieder Kleidung sowie Körperpflegeutensilien zur Verfügung gestellt worden waren. Die Beklagte beglich - teilweise nach gerichtli-chen Auseinandersetzungen (vgl. Urteile des SG Aachen vom 07.02.2017 [S 20 SO 25/16] und vom 26.01.2018 [S 19 SO 135/16]) - die Rechnungen der Klägerin.
Am Freitag, 08.03.2019, um 15:34 Uhr wurde der Patient in alkoholisiertem Zustand in der Notfallambulanz der Klägerin aufgenommen. Der Patient klagte über epigastrische und thorakale Schmerzen, Übelkeit sowie eine Ausstrahlung der Thoraxschmerzen in die linke Schulter. Es erfolgten eine ausführliche körperliche Untersuchung, ein EKG, eine Laborun-tersuchung und eine Blutgasanalyse. Die Ärzte diagnostizierten eine Alkoholintoxikation bei Verdacht auf Gastritis. Da die Untersuchungen keinen Anhalt für einen Herzinfarkt ergaben, die Schmerzen unter Medikamentengabe und Flüssigkeitszufuhr rückläufig wa-ren und bis zum folgenden Morgen Beschwerdefreiheit erreicht werden konnte, wurde der Patient entlassen. Die Klägerin teilte der Beklagten die Notfallaufnahme mit und beantrag-te die Übernahme der Kosten der ambulanten Behandlung in Höhe von 166,47 EUR (Rech-nung vom 14.08.2019).
Durch Bescheid vom 21.03.2019 lehnte die Beklagte die Übernahme der Kosten der Kran-kenbehandlung ab. Dagegen legte die Klägerin am 16.04.2029 Widerspruch ein, den die Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 15.07.2019 zurückwies. Die Beklagte begrün-dete ihre Entscheidungen damit, dass die bisherige Kostenübernahmepraxis aufgrund ei-ner gesetzlichen Änderung neu zu überprüfen sei. Mit Wirkung vom 29.12.2016 sei das Gesetz zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen im SGB II und SGB XII in Kraft getreten. Hierin habe der Gesetzgeber in Reaktion auf die umstrittene Rechtspre-chung des Bundessozialgerichts zum Leistungsanspruch ausländischer Hilfesuchender umfangreiche Änderungen in § 23 SGB XII vorgenommen. Neben den bisherigen Aus-schlusstatbeständen sei in § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII nunmehr geregelt, dass Ausländer und ihre Familienangehörigen, die kein (materielles) Aufenthaltsrecht hätten oder deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergebe, keine Leis-tungen nach § 23 Abs. 1 SGB XII erhielten. Zu den von § 23 Abs. 1 SGB XII umfassten Leistungen zähle auch die Hilfe bei Krankheit nach § 48 SGB XII. Das materielle Aufent-haltsrecht des Patienten als polnischer Staatsbürger bemesse sich nach den Vorgaben des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (Freizügigkeitsge-setz/EU - FreizügG/EU). Nach § 4 Satz 1 FreizügG/EU hätten nicht erwerbstätige Unionsbürger und ihre Familienangehörigen, die den Unionsbürger begleiten oder ihm nach-ziehen, ein Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU, wenn sie über ausreichenden Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel verfügten. Diese Voraussetzungen erfülle der Patient offensichtlich nicht, da er weder über Einkommen noch Vermögen zur Sicherstellung seines Lebensunterhalts ...