Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialhilfe. Hilfe bei Krankheit. Leistungsausschluss für Ausländer ohne Aufenthaltsrecht. Unionsbürger. Verlustfeststellung
Orientierungssatz
Solange nicht von der zuständigen Behörde die Feststellung des Verlustes (oder Nichtbestehens) des Aufenthaltsrechts eines EU-Ausländers getroffen ist, hat er ein Aufenthaltsrecht und ist er keinem Leistungsausschluss gemäß § 23 Abs 3 S 1 Nr 2 Alt 1 SGB 12 ausgesetzt.
Tenor
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 17.05.2019 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 23.07.2019 verurteilt, der Klägerin 272,01 EUR zu zahlen. Die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin trägt die Beklagte. Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über einen Anspruch auf Erstattung der Aufwendungen der Kläge-rin als Nothelfer gem. § 25 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) für eine ambulante Behandlung am 05.05.2019 in Höhe von 272,01 EUR.
Der am xx.xx.xxxx geborene polnische Staatsangehörige K. Xz (im Folgenden: Patient) ist obdachlos und ohne festen Wohnsitz. Zuletzt war er vom 24.12.2013 bis 23.04.2014 bei der Stadt Bonn gemeldet; er wurde dort von Amts wegen mit Fortzug nach unbekannt ab-gemeldet und ist seitdem dort nicht mehr in Erscheinung getreten. Er ist in Aachen häufig in der Obdachlosenunterkunft "Cafe Plattform" untergebracht. Er ist weder privat noch ge-setzlich krankenversichert. Er erhält keine laufenden Sozialleistungen. Er leidet an psychi-schen und Verhaltensstörungen bei chronischem Alkolholabusus. In den vergangenen Jahren wurde er häufig und wiederholt aus unterschiedlichen Anlässen durch Polizei und Rettungsdienst in die Notaufnahme verschiedener Krankenhäuser gebracht und dort teils stationär, teils ambulant behandelt. Der Patient hatte bei seinen verschiedenen Kranken-hausaufenthalten bei ihr nicht über die notwendigste Grundausstattung verfügt, weshalb ihm immer wieder Kleidung sowie Körperpflegeutensilien zur Verfügung gestellt worden waren.
Am Sonntag, 05.05.2019, um 17:33 Uhr wurde der Patient in alkoholisiertem Zustand vom Rettungsdienst der Beklagten in der Notfallambulanz der Klägerin aufgenommen. Der Pa-tient klagte über Thoraxschmerzen und seit Tagen bestehende Herzprobleme. Es erfolg-ten eine ausführliche körperlich Untersuchung, ein EKG, eine Blutgasanalyse und eine Blutuntersuchung. Die Ärzte diagnostizierten eine akute Alkoholintoxikation bei einer Blut-alkoholkonzentration von 3,7 ‰. Da die Untersuchungen über die akute Alkoholintoxikation hinaus keine reaktionspflichtigen Ergebnisse erbrachten, wurde der Patient wieder entlas-sen. Die Klägerin teilte der Beklagten die Notfallaufnahme per FAX am Montag, 06.05.2019, 13:33 Uhr mit und beantragte vorsorglich die Übernahme der Kosten der am-bulanten Behandlung; diese betragen 272,01 EUR (Rechnung vom 23.05.2019).
Durch Bescheid vom 17.05.2019 lehnte die Beklagte die Übernahme der Kosten der Kran-kenbehandlung ab. Dagegen legte die Klägerin am 18.06 ...2029 Widerspruch ein, den die Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 23.07.2019 zurückwies. Die Beklagte begrün-dete ihre Entscheidungen damit, dass der Nothelferanspruch des § 25 SGB XII eine Sozi-alhilfeleistungsberechtigung des Hilfebedürftigen voraussetze. Zu den Einkommens- und Vermögensverhältnissen hätten keine Feststellungen getroffen werden können. Unabhän-gig davon greife bei dem Patienten jedoch der Leistungsausschlusstatbestand des § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2, erste Alternative SGB XII. Mit Wirkung vom 29.12.2016 sei das Ge-setz zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen im SGB II und SGB XII in Kraft getreten. Hierin habe der Gesetzgeber in Reaktion auf die umstrittene Rechtspre-chung des Bundessozialgerichts zum Leistungsanspruch ausländischer Hilfesuchender umfangreiche Änderungen in § 23 SGB XII vorgenommen. Neben den bisherigen Aus-schlusstatbeständen sei in § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII nunmehr geregelt, dass Aus-länder und ihre Familienangehörigen, die kein (materielles) Aufenthaltsrecht hätten oder deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergebe, keine Leis-tungen nach § 23 Abs. 1 SGB XII erhielten. Zu den von § 23 Abs. 1 SGB XII umfassten Leistungen zähle auch die Hilfe bei Krankheit nach § 48 SGB XII. Das materielle Aufent-haltsrecht des Patienten als polnischer Staatsbürger bemesse sich nach den Vorgaben des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (Freizügigkeitsge-setz/EU - FreizügG/EU). Nach § 4 Satz 1 FreizügG/EU hätten nicht erwerbstätige Uni-onsbürger und ihre Familienangehörigen, die den Unionsbürger begleiten oder ihm nach-ziehen, ein Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU, wenn sie über ausreichenden Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel verfügten. Diese Voraus-setzungen erfülle der Patient offenbar nicht, da er weder über Einkommen noch Vermö-gen zur Sicherstellung seines Lebensunterhalts verfüge und darüber hinaus auch sein Krankenversicherungsschutz nicht sichergestellt ...