Entscheidungsstichwort (Thema)

Bayerisches Landesblindengeld. Blindheit. Beweislast. Vollbeweis. besondere Erkenntnisschwierigkeiten. keine übertriebenen Anforderungen an den Blindheitsnachweis. Maßgeblichkeit der Sehfähigkeit bei Helligkeit. blindheitsbedingte Mehraufwendungen. kein Zweckverfehlungseinwand bei Reaktionen mit anderen Sinnen. Ausgleich der fehlenden Sinneswahrnehmung

 

Orientierungssatz

1. Zwar hat das BSG im Urteil vom 11.08.2015 - B 9 BL 1/14 R = BSGE 119, 224 = SozR 4-5921 Art 1 Nr 3 eindeutig festgelegt, dass die objektive Beweislast für die den Blindengeldanspruch begründenden Tatbestandsvoraussetzungen grundsätzlich den sehbehinderten bzw blinden Menschen trifft und dass etwaige Beweiserleichterungen nicht zum Tragen kommen. Dass hier aber wegen der Vernachlässigung der bestehenden besonderen Erkenntnisschwierigkeiten übertriebene Anforderungen an den Vollbeweis zu stellen wären, lässt sich dieser Rechtsprechung keinesfalls entnehmen.

2. Maßgeblich für die Beurteilung der Blindheit ist die Sehfähigkeit im Hellen, nicht in einem dunklen Raum, da letzterer nicht den normalen Gegebenheiten entspricht.

3. Der Einwand der Zweckverfehlung von blindheitsbedingten Mehraufwendungen (vgl BSG vom 14.6.2018 - B 9 BL 1/17 R = BSGE 126, 63 = SozR 4-5921 Art 1 Nr 4) kann nicht durchgreifen, wenn der sehbehinderte Mensch mit seinen anderen Sinnen (Hörsinn, Tastsinn, Geruchssinn) reagiert, um das fehlende Sehen auszugleichen.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 13.07.2022; Aktenzeichen B 9 BL 1/22 B)

 

Tenor

I. Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 06.10.2017 und Abänderung des Bescheides vom 28.03.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.02.2019 verurteilt, der Klägerin Blindengeld für Blinde nach dem BayBlindG ab Juli 2018 zu gewähren.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

II. Von den notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin trägt der Beklagte zwei Drittel.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt vom Beklagten die Gewährung von Blindengeld nach dem Bayerischen Blindengeldgesetz (BayBlindG).

Die 2015 geborene und durch ihre Eltern vertretene Klägerin leidet am Pallister Kilian Syndrom, welches u.a. neurologisch bedingt Einschränkungen in der Sehleistung mit sich bringt.

Am 31.08.2017 beantragte sie die Gewährung von Blindengeld nach dem BayBlindG beim Beklagten. Hierzu legte sie zunächst einen Befundbericht der L-Klinik vom 22.07.2016 vor, wonach eine Fixation nur bei Schwarzlicht möglich sei, ansonsten keine solche erfolge. Der Beklagte zog weiter einen Entwicklungsbericht der Blindeninstitutsstiftung vom Oktober 2016 bei. Hiernach seien bei der Klägerin im abgedunkelten Raum tagesformabhängig Hinwendereaktionen zu einem visuellen Reiz erkennbar, im tageslichthellen Raum dagegen nicht. Allerdings zeigte sich auch im abgedunkelten Raum keine Fixation. Der behandelnde Augenarzt Dr. L1 äußerte sich weiter am 14.12.2016, dass eine Visuserhebung nicht möglich sei. Der Beklagte ließ die Klägerin daraufhin bei Dipl-Psych. R1 am 29.05.2017 begutachten. Diese äußerte, dass die Klägerin im abgedunkelten Raum deutlich aufmerksamer auf Reize reagiere, als im hellen. Hier reagiere sie auf verschiedene Muster. Auf ein Schießscheibenmuster im Projektionskasten reagiere sie, was beim ersten Versuch ein Visusäquivalent von 0,022 bedeute und beim zweiten Versuch von 0,041. Die Klägerin habe bei der Untersuchung grundsätzlich die Fähigkeit gezeigt, auf visuelle Reize zu reagieren und auf einfachem Niveau zu verarbeiten. Ein visuelles Interesse sei grundsätzlich vorhanden.

Nach Einholung einer versorgungsmedizinischen Stellungnahme vom 04.10.2017 (Empfehlung: in drei Jahren nochmalige Überprüfung des Sehorgans) lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 06.10.2017 die Gewährung von Blindengeld ab, da ein Visus von noch 0,04 bestehe.

Hiergegen erhob die Klägerin Widerspruch. Sie trug vor, dass von der L-Klinik selbst die Antragstellung empfohlen worden sei. Außerdem sei es nicht richtig, dass eine Fixation möglich sei, es werde zwar versucht, gelinge aber nicht. Die Klägerin sehe nicht einmal den Löffel, der sich auf ihren Mund zubewege. Es sei nicht zu akzeptieren, dass die Begutachtung von einer Psychologin und nicht von einem Augenarzt durchgeführt worden sei. Die Klägerin legte ergänzend einen Befundbericht der Klinik N. vom 12.12.2017 über die Durchführung einer VEP-Untersuchung vor. Bei guter Kooperation konnte hier kein VEP abgeleitet werden. Es zeigte sich lediglich eine geringe Lichtreaktion im Dunkeln.

Der Beklagte forderte hierauf weitere Befunde an. Das H-Förderzentrum legte seine Stellungnahme vom 22.11.2017 vor. Eine Fixierung einer Lichtquelle sei hiernach möglich, ein Folgen derselben sei aber nicht hundertprozentig reproduzierbar. Ergänzend holte der Beklagte eine weitere versorgungsärztliche Stellungnahme vom 22.03.2018 ein. Es werde bestätigt, dass zwar eine hochgradige Sehbehinderung, nicht aber Blindheit vorliege. Die Klägerin sei mit einer Brille versorgt und es gebe eine Okklusionsbehandlung, wa...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge