Entscheidungsstichwort (Thema)
Soziale Pflegeversicherung. Ruhen eines Anspruchs auf Pflegegeld bei einem sechs Wochen übersteigenden Türkeiaufenthalt
Leitsatz (amtlich)
1. Der Anspruch einer in Deutschland lebenden türkischen Staatsangehörigen auf Pflegegeld aus der sozialen Pflegeversicherung ruht bei einem sechs Wochen übersteigenden Türkeiaufenthalt nach § 34 Abs 1 Nr 1, Abs 1a SGB 11.
2. §§ 34 Abs 1 Nr 1, Abs 1a SGB 11 verstoßen diesbezüglich weder gegen EU-Recht noch gegen Völkerrecht.
Nachgehend
Tenor
I. Die Klage gegen den Bescheid vom 31. Januar 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30. März 2011 wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Streitig ist die Gewährung von Pflegegeld während eines sechs Wochen übersteigenden Türkeiaufenthaltes.
Die bei der Beklagten versicherte Klägerin und ihr Ehemann sind türkische Staatsangehörige. Seit 16.04.1997 erhält die Klägerin Pflegegeld nach Pflegestufe II. Am 25.01.2011 beantragte sie die Gewährung von Pflegegeld bei einem viermonatigen Aufenthalt in der Türkei. Nach dem Abkommen zwischen der Europäischen Union (EU) und der Türkei seien Türken sämtliche Leistungen zu gewähren, die auch EU-Staaten den Staatsbürgern anderer EU-Staaten gewähren.
Der Antrag wurde mit Bescheid vom 31.01.2011 und der hiergegen am 03.02.2011 erhobene Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 30.03.2011 zurückgewiesen. Der Widerspruch sei bereits unzulässig, da das Schreiben vom 31.01.2011 kein Verwaltungsakt sei, sondern lediglich eine Auskunft zur gängigen Rechtslage gebe. Das Schreiben vom 31.01.2011 stelle allenfalls schlichtes Verwaltungshandeln in der Form einer schriftlichen Information dar. Eine Beschwer der Klägerin liege nicht vor. Der Widerspruch sei auch nicht begründet. Nach § 34 Abs. 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch Elftes Buch (SGB XI) ruhe der Anspruch auf Pflegeleistungen, solange sich der Versicherte im Ausland aufhalte. Bei vorübergehendem Auslandsaufenthalt von bis zu sechs Wochen im Kalenderjahr sei das Pflegegeld weiter zu gewähren. Zwar komme nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) der Export von Pflegegeld für Versicherte deutscher Pflegekassen, die sich in einem anderen Staat des Europäischen Wirtschaftsraumes (EWR) oder der Schweiz aufhalten, in Betracht. Jedoch gelte dies nur für den Export von Pflegeleistungen in andere EU/EWR-Staaten oder die Schweiz, nicht jedoch in andere Staaten. Es verbiete sich eine Übertragung der Rechtsprechung des EuGH auf Versicherte, die sich nicht nur vorübergehend in der Türkei aufhalten.
Hiergegen richtet sich die am 02.05.2011 erhobene Klage. Die 6-Wochen-Beschränkung verstoße gegen die Verordnung 1408/71 EWG, die die soziale Gleichstellung aller auf dem Gebiet der Mitgliedstaaten lebenden Arbeitnehmer verlange. Unter den Begriff des Arbeitnehmers im Sinne dieser Verordnung würden auch Rentner und deren Familienangehörige fallen. Zwar sei der sachliche Geltungsbereich der Verordnung auf Bürger der EU-Mitgliedstaaten beschränkt. Die Verordnung 1408/71 sei jedoch zumindest in ihren Grundzügen anwendbar, da es sich bei der Klägerin um eine privilegierte Drittstaatsangehörige handle. Der EuGH habe entschieden, dass Leistungen, die im Rahmen des deutschen Pflegeversicherungssystems erbracht werden, als Leistungen bei Krankheit nach der Verordnung Nr. 1408/71 anzusehen seien. Weiterhin werde gegen das Diskriminierungsverbot nach Art. 12 Abs. 1 EG verstoßen, da die Klägerin als privilegierte Drittstaatsangehörige schlechter gestellt werde als Inländer. Die Diskriminierung der Klägerin sei auch nach Art. 9 des Assoziierungsabkommens zwischen dem EWR und der Türkei vom 12.09.1963 unzulässig. Weiterhin verstoße § 34 Abs. 1 Nr. 1 SGB XI gegen den Beschluss Nr. 3/80 vom 19.09.1980 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften auf die türkischen Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen. Dort sei in Art. 3 Abs. 1 der Grundsatz der Gleichbehandlung im Bereich der sozialen Sicherheit für türkische Staatsbürger festgelegt und in Art. 6 Abs. 1 weiter konkretisiert. Ohne die Gewährung des Pflegegeldes während des Türkeiaufenthaltes könne die Klägerin ihre Versorgung und ihren Lebensunterhalt nicht sicherstellen. Angesichts dessen könne der Klägerin nicht zugemutet werden, sich zunächst für mehr als sechs Wochen in die Türkei zu begeben, um erst dann gegen die Entscheidung der Beklagten Widerspruch einzulegen oder zu klagen.
Die Klägerin beantragt,
1. den Bescheid vom 31.01.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30.03.2011 aufzuheben,
2. die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin bei einem Aufenthalt in der Türkei über die Dauer von sechs Wochen hinaus Pflegegeld zu zahlen und
3. hilfsweise den Rechtsstreit dem EuGH zur Vorabentscheidung vorzulegen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Im Übrigen wird zur Ergänzung des Tatbestands auf den Inhalt der Gerichts...