Entscheidungsstichwort (Thema)
Umfang der Leistungspflicht der Krankenkasse bei einer weiblichen Versicherten mit totalem Haarverlust
Orientierungssatz
1. Bei einer Frau stellt der totale Haarverlust eine Behinderung i. S. von § 33 Abs. 1 S. 1 SGB 5 dar. Die Krankheit hat bei Frauen eine entstellende Wirkung; dadurch ist die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft beeinträchtigt.
2. Ziel der Hilfsmittelversorgung ist es, die Gewährleistung der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. Der Behinderungsausgleich umfasst nur die Versorgung, die notwendig ist, um den Verlust des natürlichen Haupthaares für einen unbefangenen Beobachter nicht sogleich erkennbar werden zu lassen.
3. Die Versicherte hat keinen Anspruch auf eine möglichst vollständige Wiederherstellung des ursprünglichen Zustands. Ist bei einer von der Krankenkasse der Versicherten zur Verfügung gestellten Echthaarperücke unter normalen Bedingungen nicht sogleich erkennbar, das es sich um eine Perücke handelt, so genügt die Krankenkasse ihrer Leistungspflicht aus § 33 Abs. 1 i. V. m. § 12 SGB 5.
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten
Tatbestand
Streitig ist die Kostenerstattung für eine Perückenversorgung der Klägerin.
Mit Bescheid vom 2.5.2016 bewilligte die Beklagte für eine Versorgung der Klägerin mit einer Perücke einen Betrag von 905,11 €.
Hiergegen erhob die Klägerin Widerspruch und machte geltend, dass seitens des Perückenlieferanten ein fehlerhaftes Angebot an die Beklagte erstellt worden sei. Sie habe sich für eine Perücke in Höhe von 1845 € entschieden.
Anschließend wurde der Widerspruch zurückgenommen und ein Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X gestellt wegen der Kostenübernahme für die teurere Perücke. Die Klägerin machte geltend, dass aufgrund der BSG-Rechtsprechung hier die teurere Perücke von der Beklagten zu bewilligen sei.
Die Beklagte befragte daraufhin die wegen der begehrten Perücke. Diese teilte mit, dass es sich um eine Echthaarperücke handle in Form eines Langhaarmodells, dieses Modell könne nicht zum Vertragspreis bezogen werden. Zum Vertragspreis hätte sie der Klägerin eine Echthaarperücke im Kurzhaarbereich liefern können, dies sei jedoch nicht der Wunsch der Klägerin gewesen. Die Klägerin sei mündlich über die Mehrkosten informiert worden.
Mit Bescheid vom 21.7.2017 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin ab, da der hohe Preis nur wegen der Sonderwünsche der Klägerin zustande gekommen sei, sie hätte jedoch zum Vertragspreis ordnungsgemäß versorgt werden können. Sonderwünsche könnten nicht von der gesetzlichen Krankenversicherung übernommen werden. Gleichzeitig bat die Beklagte um Mitteilung, ob der Widerspruch aufrechterhalten bleibe oder zurückgenommen werde.
Der Klägerbevollmächtigte teilte daraufhin telefonisch mit, dass der Widerspruch aufrechterhalten bleibe.
Mit Widerspruchsbescheid vom 11.1.2018 wurde der Widerspruch zurückgewiesen. Hilfsmittel dürften nur auf Grundlage von Verträgen nach § 127 SGB V abgegeben werden. Entsprechend der vertraglichen Vereinbarung zwischen den Ersatzkassen und dem Bundesverband der Zweithaareinzelhändler und zertifizierter Zweithaarpraxen e.V. (BVZ) würde die Perückenversorgung mit asiatischen Echthaar in Höhe von 915,11 € vergütet (abzüglich Eigenanteil von zehn Euro). Wenn die Klägerin nun eine höherwertige Versorgung wünsche, habe sie die Mehrkosten selbst zu tragen. Nach Auskunft des Hilfsmittellieferanten habe es sich um einen Sonderwunsch der Klägerin gehandelt. Eine Kostenerstattung käme insoweit nicht in Betracht.
Hiergegen erhob die Klägerin Klage und machte geltend, dass nach der BSG-Rechtsprechung Frauen ein Anspruch auf Versorgung mit Echthaar als unmittelbarer Behinderungsausgleich zusteht. Dieser Sachleistungsanspruch sei derzeit auf dem Markt erst ab ca. 1500 € zu gewährleisten, die Bewilligung nur eines Teilbetrages sei rechtswidrig.
Die Beklagte berief sich auf ihren Widerspruchsbescheid und machte außerdem geltend, dass gegen den Bescheid vom 21.7.2017 eigentlich gar kein Widerspruch erhoben wurde. Die Beklagte habe lediglich irrtümlich den Klägerbevollmächtigen gefragt, ob der Widerspruch aufrechterhalten werde, obwohl der Widerspruch hier schon zuvor zurückgenommen worden war. Es sei daher fraglich, ob die Voraussetzungen formal für die Klage erfüllt seien.
Die Klägerin machte geltend, dass zwar der Widerspruch zurückgenommen worden war, es war jedoch ein Antrag auf Neubescheidung gestellt worden. Es sei ein Fehler der Beklagten gewesen, dass die Frage nach Aufrechterhaltung des Widerspruchs gestellt worden war. Die formalen Voraussetzungen für die Klage seien erfüllt.
Daraufhin erging ein gerichtlicher Hinweis, dass nach vorläufiger Auffassung die formalen Voraussetzungen für die Klage erfüllt seien. Die Beklagte habe die Frage nach Aufrechterhaltung des Widerspruchs gestellt und dies war vom Klägerbevollmächtigen mündlich bejaht worden. Eine Behörde könne einen formfehlerhaften Widerspruch als unzulässig behandeln, sie...