Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht. GdB-Feststellung. Versorgungsmedizinische Grundsätze. chronische Darmstörung. Lungenfunktionseinschränkung. Gesamt-GdB-Bildung. zwei unabhängige Einzel-GdB von 30. keine Überschneidung. regelmäßiger Gesamt-GdB von 50
Leitsatz (amtlich)
In Konstellationen zweier führender Einzel-GdB von 30, bei denen die diesen Werten jeweils zugrundeliegenden Funktionsbeeinträchtigungen in ihren Auswirkungen voneinander völlig unabhängig sind und damit ganz verschiedene Bereiche im Ablauf des täglichen Lebens betreffen, ist die Annahme der Schwerbehinderteneigenschaft nicht nur in begründeten besonderen Fällen, sondern im Regelfall möglich, eine Gesamtabwägung führt in derartigen Konstellationen im Einzelfall häufiger zur Annahme eines GdB von 50 und damit der Schwerbehinderteneigenschaft.
Orientierungssatz
Hier zur GdB-Bewertung einer chronischen Darmstörung nach Teilverlust des Dickdarms (Teil B Nr 8.3 VMG) und einer Lungenfunktionsstörung (Teil B Nr 10.2.2 VMG).
Tenor
1. Der Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 30.07.2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.09.2021 verurteilt, bei dem Kläger ein Grad der Behinderung von 50 ab dem 25.05.2021 festzustellen.
2. Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Höherfeststellung seines Grades der Behinderung (GdB) von 50 statt bislang 40 ab dem 25.05.2021 und damit der Schwerbehinderteneigenschaft nach dem Neunten Buch Sozialgesetzbuch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - (SGB IX).
Der am H. 1963 geborene Kläger beantragte am 25.05.2021 beim Beklagten die Höherfeststellung seines GdB. Zuletzt hatte der Beklagte mit Bescheid vom 28.07.2004 den Gesamt-GdB des Klägers mit 30 bewertet aufgrund eines chronisch-entzündlichen Darmleidens nach Teilverlust des Dickdarms. Im Neufeststellungantrag machte der Kläger als weitere Gesundheitsstörungen eine Lungenfunktionsstörung/Kurzatmigkeit/Schlaf-Apnoe-Syndrom, ein Migräneleiden, eine Depression sowie Beschwerden im Bereich des Rückens und Nackens geltend. Der Versorgungsärztliche Dienst des Beklagten schätzte daraufhin nach Auswertung aktueller ärztlicher Unterlagen in seiner Stellungnahme den GdB des Klägers mit 40 ein. Hierauf gestützt stellte der Beklagte mit streitgegenständlichem Neufeststellungsbescheid vom 30.07.2021 beim Kläger einen Gesamt-GdB von 40 ab dem 25.05.2021 fest. Dieser stützte sich auf folgende Funktionsbeeinträchtigungen:
1. Chronisch-entzündliches Darmleiden (Einzel-GdB: 30)
2. Lungenfunktionseinschränkung (Einzel-GdB: 30)
Darüber hinaus wurde ein Schlaf-Apnoe-Syndrom mit einem Einzel-GdB von 20 sowie eine Funktionsbehinderung im Bereich der Wirbelsäule mit einem Einzel-GdB von 10 bewertet, jeweils ohne Auswirkung auf den Gesamt-GdB. Das Vorliegen einer Depression sowie einer Migräne seien ärztlicherseits nicht ausreichend belegt und würden daher keinen weiteren Einzel-GdB bedingen.
Gegen den Bescheid legte der Kläger zunächst selbst mit Schreiben vom 06.08.2021 Widerspruch ein, welcher mit Schreiben vom 01.09.2021 durch den Prozessbevollmächtigten des Klägers näher begründet wurde. Die unterschiedlichen Gesundheitsstörungen des Klägers würden in der Gesamtschau eine Schwerbehinderteneigenschaft rechtfertigen. Bereits das schwere Lungenleiden mit einer COPD Grad II nach GOLD und Vorliegen eines Lungenemphysems mit daneben bestehendem beatmungspflichtigen Schlaf-Apnoe-Syndrom rechtfertige bereits einen Einzel-GdB von 40. In Verbindung mit dem darüber hinaus bestehenden erheblichen Darmleiden, welches weitere, eigenständige Beeinträchtigungen im Alltag mit sich bringe, sei eine Schwerbehinderteneigenschaft insgesamt gerechtfertigt. Mit Widerspruchsbescheid vom 27.09.2021 wies der Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Eine Schwerbehinderteneigenschaft sei in der Person des Klägers auch nach nochmaliger Auswertung der vorhandenen medizinischen Unterlagen in der Gesamtbetrachtung nicht gerechtfertigt.
Der Kläger hat am 12.10.2021 durch seinen Prozessbevollmächtigten Klage vor dem Sozialgericht Aurich erhoben. Zur Begründung wiederholt er im Wesentlichen seine Ausführungen aus dem Widerspruchsverfahren.
Der Kläger beantragt,
den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 30.07.2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.09.2021 zu verurteilen, bei ihm einen Gesamt-GdB von 50 ab dem 25.05.2021 festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er verweist im Wesentlichen auf seine Ausführungen im Verwaltungsverfahren sowie auf die Stellungnahmen seines Versorgungsärztlichen Dienstes. Der bestehende Gesamt-GdB von 40 sei leidensgerecht.
Das Gericht hat zur weiteren Sachverhaltsaufklärung zunächst zwei Befundberichte von der den Kläger behandelnden Fachärztin für Innere Medizin Frau I. (Bericht vom 18.01.2022) sowie vom Facharzt für Innere Medizin Herr J. (Bericht vom 16.01.2022) eingeholt.
Sodann hat das Gericht am 04.05.2022 eine mündliche Verhandlung...