Entscheidungsstichwort (Thema)
Nachforderung von Sozialversicherungsbeiträgen und Säumniszuschlägen im einstweiligen Rechtsschutzverfahren. Bindungswirkung türkischer Entsendebescheinigungen. sinngemäße Übertragbarkeit der vom EuGH zu den E 101-Bescheinigungen aufgestellten Grundsätze. Befassung der türkischen Behörden mit den Beweisen für eine betrügerische oder rechtsmissbräuchliche Erlangung offensichtlich unrichtiger Entsendebescheinigungen auch im Rahmen eines Rechtshilfeersuchens im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren möglich
Leitsatz (amtlich)
1. Die vom EuGH in dem Urteil vom 6.2.2018 (C-359/16 = ABl EU 2018, Nr C 123, 3 = juris RdNr 46ff) aufgestellten Grundsätze zur Bindungswirkung von Entsendebescheinigungen E 101 nach der VO/EWG Nr 1408/71 (juris: EWGV 1408/71) (jetzt A1-Bescheinigungen aufgrund der VO/EG Nr 883/04 (juris: EGV 883/2004)) sind auf türkische Entsendebescheinigungen A/T 1 gemäß Art 5 Abs 1 der Vereinbarung zur Durchführung des Abkommens vom 30.4.1964 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Türkei über Soziale Sicherheit (juris: SozSichAbkDVbg TUR ) (BGBl II 1986, 1055) sinngemäß übertragbar.
2. Von der Türkei ausgestellte Entsendebescheinigungen A/T 1 binden die deutschen Sozialversicherungsträger danach nicht, wenn sie offensichtlich unrichtig sind, in betrügerischer oder rechtsmissbräuchlicher Weise erlangt wurden und wenn die mit den hierfür vorliegenden Beweisen konfrontierten türkischen Behörden eine Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Entsendebescheinigungen innerhalb angemessener Frist ohne Angabe nachvollziehbarer Gründe unterlassen haben.
3. Die Befassung der türkischen Behörden mit den vorliegenden Beweisen für eine betrügerische oder rechtsmissbräuchliche Erlangung offensichtlich unrichtiger Entsendebescheinigungen kann auch im Rahmen eines Rechtshilfeersuchens im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren erfolgen. Der Einleitung eines förmlichen Strafbeilegungsverfahrens gemäß Art 55 des deutsch-türkischen Sozialversicherungsabkommens (juris: SozSichAbk TUR) bedarf es insofern nicht.
Tenor
Der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz wird abgelehnt.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Wert des Verfahrensgegenstandes wird auf 2.500.000 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten über die sofortige Vollziehung hinsichtlich der Nachforderung von Sozialversicherungsbeiträgen und Säumniszuschlägen in Höhe von über 20 Mio. EUR.
Die Antragstellerin ist eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung nach türkischem Recht mit satzungsmäßigem Sitz in S. in der Türkei. Sie ist im Baugewerbe tätig und betreibt in N. eine rechtlich unselbstständige Niederlassung. Sie übt über das deutschtürkische Werkvertragsabkommen in Deutschland Bautätigkeiten aus, insbesondere Rohbau und sonstige Betonbauarbeiten. Sie beschäftigte in diesem Rahmen in dem streitigen Zeitraum von Januar 2007 bis Juni 2016 eine Vielzahl türkischer Arbeitnehmer. Sie zahlte diesen ihren Lohn in bar aus, meldete sie zur Urlaubs- und Lohnausgleichskasse der Bauwirtschaft (SOKA-Bau) an und führte Lohnsteuern ab. Eine Anmeldung zur Sozialversicherung und eine Abführung von Sozialversicherungsbeiträgen in der Bundesrepublik Deutschland erfolgten dagegen nicht.
Auf eine entsprechende Anfrage der Deutschen Rentenversicherung Ober- und Mittelfranken teilte die Provinzdirektion der Sozialversicherungsanstalten in S. mit Schreiben vom 5. Januar 2007 unter anderem mit, dass die Antragstellerin im eigenen Gebäude sowohl in der Türkei als auch im Rahmen der Werkverträge in der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere im Bausektor ihre Aktivitäten weiterhin fortsetze, dass sie in der Türkei und in Deutschland Personalräume bzw. Unterkünfte, Dienstgebäude und unbewegliche Güter bzw. Immobilien habe, dass es sich nicht um eine so genannte Briefkastenfirma handele, dass die Antragstellerin im Inland und im Ausland Baumaschinen und Baugeräte, Lager, Baustellen und Baustellenfuhrparks habe und sie bei den Bauarbeiten im Inland zeitweise je nach Arbeitsintensität und Bedarf, wenn auch teilweise, Nachunternehmer beschäftigen könne.
Auf einen anonymen Hinweis leiteten das Hauptzollamt Koblenz und die Staatsanwaltschaft Bonn gegen den Geschäftsführer der Antragstellerin ein Ermittlungsverfahren ein (Az.: ... ). In diesem Rahmen wurden zunächst mehrere Baustellenprüfungen durchgeführt. Die überwiegende Anzahl der befragten Arbeitnehmer (44 von 47) gab an, lediglich für eine Entsendung nach Deutschland für eine Höchstdauer von neun Monaten neu eingestellt worden zu sein und weder zuvor noch anschließend in der Türkei für die Antragstellerin tätig gewesen zu sein. Nur drei Arbeitnehmer hatten bei einer Befragung im Jahr 2008 erklärt, vor ihrer Entsendung auch in der Türkei für die Firma C. gearbeitet zu haben, wobei offenblieb, ob es die Antragstellerin war oder die ähnlich lautende Baufirma des Bruders des Geschäftsführers der Antragstellerin mit Sitz in A.. Nach der Beendigung der Beschäftigung in Deutschland seien ...