Entscheidungsstichwort (Thema)
Betriebsprüfung. Voraussetzungen der Bewilligung von einstweiligem Rechtschutz gegen einen Beitragsbescheid. Anwerbung türkischer Arbeitnehmer für eine zeitlich befristete Bautätigkeit in Deutschland. Entsendung. unterlassene Beitragsabführung
Orientierungssatz
1. Widerspruch und Anfechtungsklage gegen einen Beitragsbescheid haben nach § 86a Abs 2 Nr 1 SGG keine aufschiebende Wirkung. Ist die Rechtmäßigkeit der ergangenen Beitragsentscheidung nicht klar erkennbar, so kommt es bei der Entscheidung über die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Rechtsbehelfs im einstweiligen Rechtschutz auf eine Interessenabwägung an.
2. Ist entscheidungserheblich, ob das Tatbestandsmerkmal einer Entsendung im Rahmen eines außerhalb des Geltungsbereichs des SGB bestehenden Beschäftigungsverhältnisses voraussetzt, dass dieses auch außerhalb der Tätigkeit im Inland schon in dem Entsendestaat vorher bestanden hat oder im Anschluss an die Entsendung fortgesetzt werden muss, so ist dies ohne aufwändige Ermittlungen nicht zu klären. Damit ist im einstweiligen Rechtschutz die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Rechtsbehelfs gegen den ergangenen Beitragsbescheid ausgeschlossen.
Tenor
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 8. Juni 2018 wird zurückgewiesen.
Die Antragstellerin hat auch die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2.5 Mio Euro festgesetzt.
Gründe
Die Beteiligten streiten über die Anordnung der aufschiebenden Wirkung für einen gegen eine Beitragsnachforderung erhobenen Widerspruch.
Die Antragstellerin ist in der Türkei als GmbH türkischen Rechts mit Sitz in S registriert, sie unterhält eine Zweigniederlassung in N. Das Hauptzollamt Koblenz überprüfte mehrere Baustellen, auf denen aus der Türkei stammende Arbeiter für die Antragstellerin tätig waren. Diese gaben auf Befragen an, von der Antragstellerin ausschließlich für die Arbeit in Deutschland eingestellt worden zu sein. Das Hauptzollamt kam aufgrund seiner Ermittlungen zu dem Ergebnis, dass die Antragstellerin in der Türkei keine eigenen Geschäftstätigkeiten ausführe und an ihrem Firmensitz lediglich ein Anwerbebüro unterhalte. Die Regelungen über die Entsendung von Arbeitskräften würden aber verlangen, dass das entsendende Unternehmen im Heimatland mindestens 20 Prozent des gesamten wirtschaftlichen Umsatzes erwirtschafte. Für die Arbeitskräfte seien daher in Deutschland Sozialversicherungsbeiträge abzuführen gewesen. Das Hauptzollamt teilte seine Erkenntnisse der Staatsanwaltschaft und der Antragsgegnerin mit. Die Staatsanwaltschaft Bonn führte weitere Ermittlungen und klagte den Geschäftsführer der Antragstellerin wegen Vorenthaltens von Arbeitsentgelt an; das Verfahren wird gegenwärtig vor dem Landgericht Bonn verhandelt.
Die Antragsgegnerin hörte die Antragstellerin mit Schreiben vom 12. August 2015 zu ihrer Absicht an, Beiträge zur Sozialversicherung nachzufordern. Die türkischen Arbeitnehmer seien zur Urlaubs- und Lohnausgleichskasse der Bauwirtschaft (S-Bau) gemeldet gewesen und es sei für sie Lohnsteuer abgeführt worden. Die Antragstellerin habe ihre Arbeitnehmer aber nicht der Einzugsstelle gemeldet und für sie auch keine Beiträge abgeführt. Hinsichtlich der Bezüge habe sie ihre Aufzeichnungspflicht verletzt. Es werde Gelegenheit gegeben, das Versäumte nachzuholen. Für die Vorenthaltung der Beiträge sei bedingter Vorsatz anzunehmen, so dass eine Verjährungsfrist von 30 Jahren greife.
Mit Bescheid vom 19. Januar 2018 setzte die Antragsgegnerin gegen die Antragstellerin als Ergebnis einer Betriebsprüfung für den Zeitraum vom 1. Januar 2007 bis 30. Juni 2016 Nachforderungen zur Sozialversicherung in Höhe von insgesamt 20.191.302,28 € (einschließlich Säumniszuschlägen in Höhe von 8.718.434,50 €) fest. Nach dem Ergebnis der Ermittlungen hätten die Voraussetzungen für eine Entsendung von Arbeitnehmern nach dem deutsch-türkischen Sozialversicherungsabkommen nicht vorgelegen. Die Beschäftigten seien daher zur deutschen Sozialversicherung anzumelden gewesen und es hätten Sozialversicherungsbeiträge für sie gezahlt werden müssen. Die auf Baustellen der Antragstellerin in Deutschland befragten Arbeitnehmer hätten angegeben, in der Türkei ausschließlich für eine Tätigkeit in Deutschland angeworben worden zu sein. Nach einem Zerwürfnis mit seinem Bruder habe der Geschäftsführer der Antragstellerin eine bestehende Zweigniederlassung der Firma seines Bruders mit Sitz in N fortgeführt und eine Firma in S (Türkei) gegründet, deren alleiniger Zweck die Anwerbung und Vermittlung von Arbeitnehmern zu der (ehemaligen) Zweigniederlassung in N gewesen sei. Die Antragstellerin habe dabei das Kontingent der Firma des Bruders ihres eigenen Geschäftsführers genutzt. Kraft des Territorialitätsprinzips fänden auf die Beschäftigungen die deutschen Vorschriften über die Sozialversicherungs- und Beitragspflicht Anwendung. Eine Entsendung nach den Vorschriften d...