Entscheidungsstichwort (Thema)

Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für ausländische Staatsangehörige bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Anwendbarkeit auf Unionsbürger. europarechtskonforme Auslegung. Umfang der Aufklärungspflicht des Gerichts zum Aufenthaltsrecht im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes. Folgenabwägung bei existenzsichernden Leistungen

 

Leitsatz (amtlich)

1. Es bestehen Zweifel daran, ob der zeitlich unbegrenzte Leistungsausschluss gemäß § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 ohne Differenzierung danach, ob die Arbeitssuche bereits Zweck der Einreise war oder später zum alleinigen Aufenthaltszweck wurde, mit der europäischen Ermächtigungsnorm des Art 24 Abs 2 der Richtlinie 2004/38/EG (Unionsbürger-RL) (juris: EGRL 38/2004) in Verbindung mit Art 14 Abs 4 Buchst b Unionsbürger-RL vereinbar ist.

2. Auf die Europarechtskonformität des Leistungsausschlusses kommt es nicht an, wenn ein sonstiges Aufenthaltsrecht besteht. Ein solches kann sich nicht nur aus der Arbeitnehmerfreizügigkeit und dem Niederlassungsrecht, sondern unter Umständen auch aus der elterlichen Sorge für ein freizügigkeitsberechtigtes minderjähriges Kind ergeben.

3. Soweit im Rahmen eines einstweiligen Rechtsschutzverfahrens nicht hinreichend aufklärbar ist, ob ein sonstiges Aufenthaltsrecht besteht, fällt eine Folgenabwägung angesichts der Tatsache, dass Leistungen nach dem SGB 2 laufend die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art 1 Abs 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art 20 Abs 1 GG sichern, regelmäßig zugunsten der Antragsteller aus.

 

Tenor

1. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellern ab 6. Januar 2011 bis zum 6. Juni 2011 (längstens jedoch bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache) vorläufig darlehensweise Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

2. Im Übrigen wird der Antrag abgewiesen.

3. Der Antragsgegner hat den Antragstellern 90 % von deren außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

 

Gründe

I.

Die Antragsteller begehren im Wege der einstweiligen Anordnung Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II.

Die 1959 geborene Antragstellerin zu 1) und ihr 1997 geborener Sohn, der Antragsteller zu 2), sind bulgarische Staatsbürger. Seit dem 18. Oktober 2007 sind sie nach dem Berliner Meldegesetz in Berlin gemeldet. Am 28. Februar 2009 erhielt die Antragstellerin zu 1) eine Bescheinigung gem. § 5 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU). Am 23. April 2009 erhielt der Antragsteller zu 2) ebenfalls eine solche Bescheinigung. Am 25. Oktober 2010 erhielt die Antragstellerin zu 1) eine unbefristete Arbeitsberechtigung-EU für berufliche Tätigkeiten jeder Art. Die Antragsteller stellten am 8. November 2010 einen Antrag auf Leistungen nach dem SGB II bei dem Antragsgegner. Die Antragstellerin zu 1) gab bei Antragstellung an, bislang privat Wohnungen gegen Spenden in Form von Geld, Essen und Kleidung geputzt zu haben und ansonsten von dem Kindergeld und der Halbwaisenrente des Antragstellers zu 2) gelebt zu haben. Der Antragsteller zu 2) besucht derzeit die A-R-Schule in B-N. Kosten der Unterkunft machten die Antragsteller bislang nicht geltend, weil sie bei Bekannten untergekommen waren. Mit Bescheid vom 23. November 2010 lehnte der Antragsgegner die Gewährung von Leistungen ab. Zur Begründung führte er aus, dass die Antragsteller gem. § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgenommen seien.

Mit ihrem am 6. Januar 2011 beim Sozialgericht eingegangenen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung haben die Antragsteller ihr Anliegen weiter verfolgt.

Die Antragsteller beantragen,

den Antragsgegner durch Beschluss zu verpflichten, den Antragstellern vorläufig darlehensweise ungekürzte Leistungen gemäß dem SGB II zu gewähren.

Der Antragsgegner beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Zur Begründung führt er an, dass die Antragsteller gem. § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II vom Leistungsbezug ausgeschlossen seien, weil die Antragstellerin zu 1) sich alleine zur Arbeitssuche in Deutschland aufhalte. Andere Gründe, die ein Aufenthaltsrecht vermitteln könnten, seien nicht ersichtlich. Es bestünden auch keine europarechtlichen Bedenken gegen die Anwendung dieser Vorschrift.

Zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes wird im Übrigen auf den Inhalt der Prozessakte und der Verwaltungsakte Bezug genommen. Er war Gegenstand der Entscheidungsfindung.

II.

Der zulässige Antrag ist größtenteils begründet.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 und 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streiti...

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