Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Kostenentscheidung. Veranlassungsprinzip. sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. elektronische Kommunikation. fehlerhafte Rechtsbehelfsbelehrung. kein Hinweis auf die Möglichkeit der Erhebung des Widerspruchs in elektronischer Form. Eröffnung des elektronischen Zugangswegs
Orientierungssatz
1. Die Übermittlung elektronischer Dokumente ist nach § 36a Abs 1 SGB 1 zulässig, soweit der Empfänger hierfür einen Zugang eröffnet. Der Zugang ist eröffnet, wenn ein Datenschlüssel zur Teilnahme am elektronischen Rechtsverkehr mittels Elektronischem Gerichts- und Verwaltungspostfach (EGVP) hinterlegt ist.
2. Bereits die technische Zugangsmöglichkeit stellt, insbesondere wenn auf den Bescheiden und Rechtsmittelhinweisen keine anderslautende Erklärung aufgebracht ist, eine konkludente Widmung dar.
3. Unter diesen Voraussetzungen ist eine Rechtsbehelfsbelehrung, die keinen Hinweis auf die Möglichkeit der Widerspruchserhebung in elektronischer Form enthält, unrichtig (zum Erfordernis der Belehrung über die elektronische Form vgl SG Berlin vom 25.10.2018 - S 121 AS 10417/18 ER = info also 2019, 74).
Tenor
Der Antragsgegner trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers.
Gründe
Nach § 193 Abs. 1 Satz 1 und 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) entscheidet das Gericht durch Beschluss, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben, wenn der Rechtsstreit - wie vorliegend - anders als durch Urteil beendet wird.
Die Entscheidung ist unter Berücksichtigung des Sach- und Streitstandes zum Zeitpunkt der Erledigung nach sachgemäßem Ermessen zu treffen, wobei es in der Regel billig ist, dass derjenige die Kosten trägt, der unterliegt bzw. dessen Rechtsstreit auch vor Erledigung unter Berücksichtigung des bis dahin vorliegenden Sach- und Streitstandes keine Aussicht auf Erfolg gehabt hätte (Bundessozialgericht (BSG), Beschluss vom 13. Dezember 2016, B 4 AS 14/15 R, juris, Rdnr. 7 m. w. N.; vgl. auch Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 193 Rdnr. 12 a m. w. N.). Allerdings sind bei der gerichtlichen Entscheidung neben den Erfolgsaussichten alle weiteren Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen, insbesondere die Gründe, die Anlass zur Klageerhebung i. S. des Veranlassungsprinzips gegeben haben (BSG, Beschluss vom 16. Mai 2007, B 7b AS 40/06 R, juris; Schmidt, a. a. O., Rdnr. 12b ff.).
Hiernach hat der Antragsgegner die Kosten zu erstatten. Denn er hat zunächst die aufschiebende Wirkung der zum Az S 179 AS 4938/19 erhobenen Klage in der Annahme nicht beachtet, die angegriffenen Bescheide seien bestandskräftig.
Nach hier vertretener Auffassung sind die Aufrechnungsbescheide vom 28. Februar 2019 jedoch nicht bestandskräftig geworden, weil sie jeweils mit Widerspruch vom 24. April 2019 form- und fristgerecht angegriffen worden sind.
Der Widerspruch vom 24. April 2019 war nicht verfristet. Nach § 84 Abs. 1 S. 1 SGG ist der Widerspruch ist binnen eines Monats, nachdem der Verwaltungsakt dem Beschwerten bekanntgegeben worden ist, bei der Stelle einzureichen, die den Verwaltungsakt erlassen hat. Die Monatsfrist ist hier unstreitig deutlich überschritten. Nach § 84 Abs. 2 S. 3 SGG gilt gemäß § 66 Abs. 2 S. 1 SGG jedoch: Ist die Belehrung unterblieben oder unrichtig erteilt, so ist die Einlegung des Rechtsbehelfs nur innerhalb eines Jahres seit Zustellung, Eröffnung oder Verkündung zulässig. Die - auch eingehaltene - Widerspruchsfrist betrug vorliegend ein Jahr, da die Rechtsmittelbelehrung des Antragsgegners nach hier vertretener Ansicht unrichtig ist. Denn die Belehrung enthielt keinen Hinweis auf die Möglichkeit der Widerspruchserhebung in elektronischer Form.
Nach § 36a Abs. 1 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch (SGB I) ist die Übermittlung elektronischer Dokumente zulässig, soweit der Empfänger hierfür einen Zugang eröffnet. Nach hier vertretener Auffassung hat der Antragsgegner den Zugang eröffnet. Im gerichtlichen Datensystem des SG Berlin ist seit dem 9. Januar 2018, also seit mehr als einem Jahr vor Erhebung des Widerspruchs, ein Datenschlüssel zur Teilnahme des Antragsgegners am elektronischen Rechtsverkehr mittels EGVP („Elektronische Gerichts- und Verwaltungspostfach“) hinterlegt. Zudem enthalten die Bescheide des Antragsgegners die Angabe einer E-Mail-Adresse. Bereits die technische Zugangsmöglichkeit stellt, insbesondere wenn auf den Bescheiden und Rechtsmittelhinweisen keine anderslautende Erklärung aufgebracht ist, eine konkludente Widmung dar. Anders als in der - vom Antragsgegner in Bezug genommenen - Entscheidung der 37. Kammer (SG Berlin, Urteil vom 10. Mai 2019 - S 37 AS 13511/18) liegt keine Übersendung per E-Mail, sondern eine Übersendung per EGVP vor. Die Kammer folgt den entgegenstehenden Entscheidungen des SG Berlin (Beschluss vom 25. Oktober 2018 - S 121 AS 10417/18 ER und Beschluss vom 25. Oktober 2018 1. Oktober 2018 - S 123 AS 9514/18 ER).
Der per EGVP erhobene Widerspruch war auch formg...