Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. keine Versäumung der Widerspruchsfrist. fehlende Belehrung über mögliche elektronische Widerspruchseinlegung. Voraussetzung der Eröffnung des elektronischen Zugangswegs. Elektronisches Gerichts- und Verwaltungspostfach. besonderer Widmungsakt der Behörde. konkludenter Widmungsakt bei Aufnahme der E-Mail-Adresse ins Adressverzeichnis des EGVP
Leitsatz (amtlich)
1. Der Zugang für den Empfang elektronischer Dokumente nach § 36a Abs 1 SGB I ist eröffnet, wenn die Behörde einen technisch vorhandenen Zugang gewidmet hat.
2. Eine konkludente und generelle Widmung liegt spätestens mit der Aufnahme der Behörde in das Adressverzeichnis des Elektronischen Gerichts- und Verwaltungspostfachs (EGVP) vor, auch wenn die Behörde intern beabsichtigt, nur mit den Gerichten elektronisch zu kommunizieren.
3. Ab diesem Zeitpunkt muss die Behörde über die Möglichkeit der elektronischen Widerspruchseinlegung belehren.
Tenor
1. Der Beklagte wird unter Änderung der Kostenentscheidung im Widerspruchsbescheid vom 1. November 2019 (W 4005/19) verpflichtet, der Klägerin die notwendigen Aufwendungen für das Widerspruchsverfahrens W 4005/19 zu erstatten. Die Notwendigkeit der Hinzuziehung des Bevollmächtigten wird festgestellt.
2. Der Beklagte hat der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
3. Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Rechtmäßigkeit einer Kostenentscheidung im Widerspruchsverfahren.
Die Klägerin, eine litauische Staatsangehörige, beantragte im August 2019 beim Beklagten ergänzende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Sie gab an, seit dem 7. August 2019 als Reinigungskraft monatlich etwa 300 EUR zu verdienen. Mit einem am 17. September 2019 gefertigten und abgesandten Bescheid lehnte der Beklagte den Antrag der Klägerin ab. Zur Begründung führte er aus, dass sie als EU-Bürgerin von einem Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen sei. Im Bescheid war eine E-Mail-Adresse des zuständigen Bearbeitungsteams angegeben. Die Rechtsmittelbelehrung enthielt keine Angaben zur Zulässigkeit oder Unzulässigkeit einer elektronischen Widerspruchseinlegung.
Gegen die Ablehnungsentscheidung erhob der Prozessbevollmächtigte für die Klägerin am 31. Oktober 2019 Widerspruch und führte aus, dass sie aufgrund ihrer abhängigen Beschäftigung Arbeitnehmerin und daher aufenthalts- und leistungsberechtigt sei. Der Widerspruch sei nicht verfristet, da die Rechtsbehelfsbelehrung unrichtig sei.
Mit Widerspruchsbescheid vom 1. November 2019 (W 4005/19) verwarf der Beklagte den Widerspruch der Klägerin als unzulässig und bestimmte, dass keine Kosten zu erstatten sind. Der Widerspruch sei verfristet. Der am 17. September 2019 zur Post aufgegebene Bescheid gelte gegenüber der Klägerin als am 20. September 2019 bekanntgegeben, sodass die Widerspruchsfrist am 21. Oktober 2019 geendet habe. Die Rechtsbehelfsbelehrung sei nicht zu beanstanden, über die Möglichkeit, elektronisch Widerspruch zu erheben, sei noch nicht zu belehren gewesen.
Mit Bescheid vom 8. November 2019 bewilligte der Beklagte der Klägerin unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides ab Antragstellung Arbeitslosengeld II und führte aus, dass die Überprüfung aus Anlass des Widerspruchsverfahrens W 4005/19 erfolgt sei.
Am 21. November 2019 hat die Klägerin vor dem Sozialgericht Berlin Klage gegen die Kostenentscheidung im Widerspruchsverfahren erhoben. Sie macht geltend, dass der Widerspruch zulässig gewesen sei, da die Rechtsmittelbelehrung im Ablehnungsbescheid unrichtig sei. Der Beklagte hätte auch über die Möglichkeit belehren müssen, elektronisch Widerspruch zu erheben.
Die Klägerin beantragt,
den Beklagten unter Abänderung der Kostenentscheidung im Widerspruchsbescheid vom 1. November 2019 zu verpflichten, die notwendigen Aufwendungen der Klägerin für das Widerspruchsverfahren W 4005/19 zu erstatten.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung verweist er auf die Ausführungen im Widerspruchsbescheid. Zwar sei im Adressverzeichnis des Elektronischen Gerichts- und Verwaltungspostfachs (EGVP) mindestens seit April 2019 ein EGVP-Schlüssel hinterlegt, der Beklagte sie jedoch nur bereit gewesen, mit den Gerichten zu kommunizieren. Zwar hätten Gerichte und Rechtsanwälte das EGVP-Postfach des Beklagten finden und erreichen konnten, der Beklagte habe jedoch nur an die Gerichte senden können. Eine Korrespondenz per EGVP mit der Allgemeinheit erfolge nach internen Vorgaben erst ab April 2020. Der Beklagte nimmt Bezug auf die Entscheidung des Sozialgerichts Berlin vom 10. Mai 2019 zum Aktenzeichen S 37 AS 13511/18.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und die vom Beklagten in Kopie übersandte Leistungsakte verwiesen, die der Kammer bei der Entscheidung vorlagen und Gegenstand der Beratung waren.
Entscheidungsgründe
Das Gericht konnte nach § 124 Abs. 2 Soz...