Entscheidungsstichwort (Thema)
Elterngeldanspruch eines in Deutschland lebenden, nicht erwerbstätigen EU-Ausländers. Unionsbürgerschaft. formelles Freizügigkeitsrecht. materielles Freizügigkeitsrecht. Gleichstellung mit deutschen Staatsangehörigen. Leistungsausschluss nur bei Aberkennung des Freizügigkeitsrechts durch die Ausländerbehörde. keine Prüfungskompetenz von Sozialbehörden und Sozialgerichten
Orientierungssatz
1. Für Angehörige eines Mitgliedsstaates der Europäischen Union gilt gemäß Art 21 Abs 1 AEUV ein von der Arbeitnehmer- oder Dienstleistungsfreizügigkeit unabhängiges Freizügigkeitsrecht, das allein aus der Unionsbürgerschaft folgt und aus dem sich ein Aufenthaltsrecht ergibt; dieses unmittelbar anwendbare subjektiv-öffentliche Recht steht allen Unionsbürgern, und zwar auch den Angehörigen der Beitrittsstaaten, die hinsichtlich des Zuganges zum Arbeitsmarkt Beschränkungen unterliegen (hier: Kroatien), unabhängig vom Zweck seiner Inanspruchnahme zu (vgl BFH vom 15.3.2017 - III R 32/15 = BFHE 258, 16 = BStBl II 2017, 963).
2. Sozialleistungsträger wie Sozialgerichte haben im Rahmen der Prüfung des Freizügigkeitsrechts eines Unionsbürgers bis zu einer entgegenstehenden Entscheidung der Ausländerbehörde von der generellen Freizügigkeitsvermutung auszugehen und besitzen keine Prüfungskompetenz für die Schranken des Freizügigkeitsrechts.
3. Für einen Anspruch auf Elterngeld ist darüber hinaus das Vorliegen eines materiellen Freizügigkeitsrechts nicht erforderlich.
4. Zwar unterfällt das Elterngeld als Familienleistung gemäß Art 3 Abs 1 Buchst j EGV 883/2004 dem sachlichen Anwendungsbereich der Verordnung, indes kann sich auf das Gleichbehandlungsgebot aus Art 4 EGV 883/2004 nur berufen, wessen Aufenthalt im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats die Voraussetzungen der EGRL 2004/38 erfüllt (so auch EuGH vom 11.11.2014 - C-333/13, Dano = SozR 4-6065 Art 4 Nr 3).
Nachgehend
Tenor
Der Bescheid vom 10.6.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19.8.2015 wird abgeändert und der Beklagte verurteilt, der Klägerin Elterngeld für den 1. bis 12. Lebensmonat ihres 2015 geborenen Kindes A. in gesetzlicher Höhe zu zahlen.
Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.
Die Sprungrevision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Elterngeld nach dem Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz und insoweit darüber, ob die Klägerin als kroatische Staatsangehörige vom Leistungsbezug ausgeschlossen ist.
Die im Jahr 1991 geborene Klägerin ist kroatische Staatsangehörige und hält sich seit Dezember 2012 in Deutschland auf. Sie ist die Mutter zweier 2012 und 2013 geborener Kinder und des 2015 geborenen Kindes A., mit denen sie in einem gemeinsamen Haushalt lebt (seit Januar 2015 in der S.Str. in B. ) und die sie dauerhaft betreut und erzieht.
Bis zur Geburt ihrer 2015 geborenen Tochter war die Klägerin weder abhängig noch selbständig erwerbstätig. Sie war nicht krankenversichert und bezog kein Mutterschaftsgeld. Im Juli 2015 war sie bei der Firma W. GmbH Gebäudeservice in einem Umfang von 6 Wochenstunden zu 9,55 € pro Stunde tätig und erzielte insoweit ein Einkommen von 238,66 € brutto = netto. Ferner war die Klägerin ab August 2015 bei der Firma A. UG in einem Umfang von 10 Wochenstunden zu 8,50 € pro Stunde beschäftigt und erzielte insoweit ein monatliches Einkommen von 368,30 € brutto = netto; seit November 2015 übte sie diese Beschäftigung nicht mehr aus.
Eine Entscheidung der Ausländerbehörde im Sinne einer förmlichen Feststellung des Nichtbestehens oder des Wegfalls des Freizügigkeitsrechts der Klägerin existiert nicht.
Die Klägerin beantragte beim Beklagten am 20.5.2015 die Gewährung von Elterngeld für die ersten 12 Lebensmonate ihrer 2015 geborenen Tochter in Höhe des Mindestbetrags.
Mit Bescheid vom 10.6.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19.8.2015 lehnte der Beklagte die Gewährung von Elterngeld ab, weil die Klägerin über kein Aufenthaltsrecht nach dem Freizügigkeitsgesetz/EU (FreizügG/EU) verfüge und als nichtfreizügigkeitsberechtigte Ausländerin mangels Vorliegen der Voraussetzungen des § 1 Abs. 7 Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz vom Elterngeldbezug ausgeschlossen sei.
Mit der am 18.9.2015 erhobenen Klage begehrt die Klägerin die Gewährung von Elterngeld in gesetzlicher Höhe. Sie trägt insoweit vor, dass sie kroatische Staatsangehörige und damit Unionsbürgerin sei, weshalb sie einen Anspruch auf alle Familienleistungen habe. Aus Art. 4 VO (EG) 883/2004 ergebe sich ein Gleichbehandlungsanspruch auf Familienleistungen.
Die Klägerin beantragt (sinngemäß),
den Bescheid vom 10.6.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19.8.2015 abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, ihr Elterngeld für den 1. bis 12. Lebensmonat ihrer 2015 geborenen Tochter in gesetzlicher Höhe zu zahlen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen sowie im Falle einer klagestattgebenden Entscheidung die ...