Entscheidungsstichwort (Thema)

Elterngeldanspruch von nicht erwerbstätigen EU-Ausländern. Unionsbürgerschaft. Freizügigkeitsrecht. keine materielle Prüfung des Aufenthaltsrechts durch Elterngeldstelle und Sozialgericht. Freizügigkeitsvermutung bis zur entgegenstehenden Entscheidung der Ausländerbehörde. positive dauerhafte Bleibeprognose bei Unterbleiben von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen

 

Leitsatz (amtlich)

1. Unionsbürger sind bis zu einer entgegenstehenden Entscheidung der Ausländerbehörde freizügigkeitsberechtigte Ausländer im Sinne des § 1 Abs 7 BEEG, da sie sich auf das von den im Rahmen des Binnenmarktes gewährleisteten Grundfreiheiten unabhängige und unmittelbar geltende Freizügigkeitsrecht aus Art 21 Abs 1 AEUV berufen können (Anschluss an BFH vom 27.4.2015 - III B 127/14 = BFHE 249, 519 = BStBl II 2015, 901).

2. Eine Prüfung des materiellen Aufenthaltsrechts eines Unionsbürgers im Rahmen der Feststellung der Freizügigkeitsberechtigung im Sinne des § 1 Abs 7 BEEG erfolgt weder im Verwaltungsverfahren durch die Elterngeldstelle noch im Gerichtsverfahren durch das Sozialgericht, sondern ist der Ausländerbehörde und den Verwaltungsgerichten vorbehalten.

3. Die Übergangsbestimmungen zum EU-Beitritt schränken lediglich die im Rahmen des Binnenmarktes gewährleisteten Grundfreiheiten ein, nicht hingegen das aus der Unionsbürgerschaft abgeleitete Freizügigkeitsrecht aus Art 21 Abs 1 AEUV.

 

Orientierungssatz

1. Im Gegensatz zu § 7 Abs 1 S 2 SGB 2 enthalten die Regelungen § 1 Abs 7 BEEG, § 62 Abs 2 EStG, § 1 Abs 3 BKGG 1996 und § 1 Abs 2a UhVorschG keine Einschränkung, welche an die europäischen Schranken der Freizügigkeit anknüpft und eine Prüfung des materiellen Aufenthaltsrechts erfordert bzw zulässt.

2. Solange die Ausländerbehörde keine aufenthaltsbeendenden Maßnahmen gegen Unionsbürger einleitet, spricht nichts gegen einen dauerhaften Aufenthalt der Unionsbürger.

 

Tenor

Der Bescheid vom 27. November 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 1. Februar 2013 wird abgeändert und der Beklagte verurteilt, der Klägerin Elterngeld für den 3.-8. Lebensmonat ihres am 22. Februar 2012 geborenen Kindes K. in Höhe von monatlich 300,00 € zu zahlen.

Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Elterngeld nach dem Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz (in der Fassung des Haushaltbegleitgesetzes 2011 vom 9.12.2010, BGBl. I, 1885 - im Folgenden BEEG a.F. -) für den 3. bis 8. Lebensmonat der Tochter der Klägerin.

Die Klägerin ist bulgarische Staatsangehörige und reiste Anfang des Jahres 2011 nach Deutschland zu ihrem Partner, der als Asylbewerber grundsätzlich der Residenzpflicht in Leipzig unterlag. Sie wohnte in der S. Straße,… Berlin, und suchte Arbeit, fand aber zunächst keine. Die Klägerin meldete ein Gewerbe im Bereich Küchenhilfe, Gebäudereinigung und Kellnern an. Am 10. November 2011 wurde ihr von der Ausländerbehörde eine Bescheinigung nach § 5 Freizügigkeitsgesetz/EU (FreizügG/EU) ausgestellt. Vom 1. Dezember 2011 bis 31. Januar 2012 war die Klägerin im Rahmen eines befristeten “Subunternehmervertrags„ bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von 10 Stunden und einer Vergütung von monatlich 100,00 € in einer Pizzeria im Bereich “Küchenreinigung - Vorbereitung„ tätig. Die Klägerin war ferner in Deutschland nicht krankenversichert; sie hatte bei der Bundesagentur für Arbeit auch keine Arbeitsgenehmigung/EU beantragt. Anfang des Jahres 2012 zog die Klägerin in die O.Straße … Berlin, um.

Am 22. Februar 2012 gebar die Klägerin ihre Tochter K.; sie und ihre Tochter wurden in der Folge vom Kinder- und Jugendgesundheitsdienst des Gesundheitsamtes des Bezirksamts Mitte von Berlin betreut. Die Klägerin erhielt keine Mutterschaftsleistungen. Sie beantragte beim Beklagten - unter Angabe ihrer alten Anschrift in der S. Straße - am 12. April 2012 Elterngeld für 12 Lebensmonate ihrer Tochter in Höhe des Mindestbetrags.

Am 21. September 2012 führte der Prüf- und Ermittlungsdienst des Beklagten in der Unterkunft S. Straße einen Hausbesuch durch, bei dem die Klägerin nicht vorgefunden wurde; die angetroffenen Personen gaben an, dass die Klägerin mit ihrer Tochter in der O.Straße wohne. Bei einem anschließenden Hausbesuch in der O.Straße wurden an den Klingelschildern und Briefkästen keine Hinweise auf die Klägerin festgestellt. Mit Bescheid vom 10. Oktober 2012 lehnte der Beklagte die Gewährung von Elterngeld daraufhin mit der Begründung ab, dass sie keinen Wohnsitz bzw. gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland habe. Dagegen erhob die Klägerin mit Schreiben vom 22. Oktober 2012 Widerspruch, in dem sie ausführte, in der O.Straße zu wohnen; sie legte dem Widerspruch eine Anmeldebestätigung vom selben Tag bei, die einen Einzug in die O.Straße am 15. Oktober 2012 auswies. Daraufhin ließ der Beklagte erneut einen Hausbesuch durchführen, bei dem am 7. November 2012 festgestellt wurde, dass die Klägerin mit ihrer Tochter und dem Kindesvater in der O. Straße ...

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