Entscheidungsstichwort (Thema)
Vertragspsychotherapeutische Versorgung. Sicherstellungsauftrag des Kassenärztlichen Vereinigung und Sachleistungsverantwortung der Krankenkasse. vergebliche Suche der Versicherten nach einem freien Therapieplatz. Anforderungen an das Vorliegen eines Systemversagens. Freistellungsanspruch nach § 13 Abs 3 S 1 SGB 5
Leitsatz (amtlich)
1. Gelingt es einer Versicherten mit den ihr individuell zumutbaren Anstrengungen nicht, für eine medizinisch erforderliche psychotherapeutische Behandlung einen zugelassenen und behandlungsbereiten Leistungserbringer in einer für sie zumutbaren Zeit und Entfernung zu finden, ist die Krankenkasse verpflichtet, sie aktiv bei der Suche zu unterstützen. Kommt sie dieser Verpflichtung nicht ausreichend nach, kann sich hieraus ein die Inanspruchnahme eines nicht zugelassenen (approbierten) Leistungserbringers rechtfertigendes Systemversagen ergeben.
2. Zu den Anforderungen an das Vorliegen eines Systemversagens bei der Suche nach einem freien Therapieplatz bei einem zugelassenen und behandlungsbereiten Leistungserbringer für eine ambulante (Richtlinien-)Psychotherapie.
Orientierungssatz
Maßgeblicher Zeitpunkt für die Frage, ob ein Systemversagen vorliegt, ist der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl auch BSG vom 2.9.2014 - B 1 KR 3/13 R = BSGE 117, 1 = SozR 4-2500 § 28 Nr 8 RdNr 28).
Tenor
Der Bescheid der Beklagten vom 3. Februar 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. April 2017 wird aufgehoben.
Die Beklagte wird verurteilt, die Klägerin von den Kosten für bis zu vier probatorische Sitzungen bei der Diplom-Psychologin O. S. dem Grunde nach freizustellen.
Die Beklagte hat der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Freistellung von den Kosten einer psychotherapeutischen Behandlung bei einer nicht zur vertragspsychotherapeutischen Versorgung zugelassenen Psychotherapeutin. Streitig ist hierbei nach einem Verfahrensvergleich nur noch die Kostenfreistellung für die probatorischen Sitzungen.
Die 1992 geborene und bei der Beklagten gesetzlich krankenversicherte Klägerin leidet unter einer mittelgradigen, rezidivierenden depressiven Störung.
Mit Schreiben vom 25. Januar 2017 stellte sie bei der Beklagten einen Antrag auf ambulante Psychotherapie und Kostenerstattung nach § 13 Abs. 3 SGB V bei der Psychotherapeutin O. S. Frau S. ist eine approbierte Psychotherapeutin in den Richtlinienverfahren tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und Psychoanalyse, verfügt jedoch nicht über eine Zulassung zur vertragspsychotherapeutischen Versorgung. In dem Antrag gab die Klägerin an, sie habe sich am 9. und 16. Januar 2017 vergeblich um einen ersten Termin bei sechs verschiedenen zugelassenen (namentlich benannten) Psychotherapeuten bemüht. Bei Frau S. bestehe die Möglichkeit, kurzfristig mit der Behandlung zu beginnen. Eine dreimonatige Wartezeit auf einen Therapieplatz sei ihr wegen der deutlichen Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes nicht zumutbar. Dem Antrag beigefügt war überdies eine Bescheinigung des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. J. über die Notwendigkeit einer Psychotherapie. Mit Schreiben vom 27. Januar 2017 unterstützte die Psychotherapeutin S. den Antrag der Klägerin und teilte mit, dass sie nach EBM abrechne.
Mit Bescheid vom 3. Februar 2017 lehnte die Beklagte eine Kostenzusage für eine außergerichtliche Psychotherapie ab. Zugleich verwies sie auf die Möglichkeiten der Suche nach einem zugelassenen Leistungserbringer über die Internetseiten der Beigeladenen und über die Psychotherapeutenkammer Berlin. Die Beklagte benannte zudem acht zugelassene Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, die freie Therapieplätze gemeldet hätten.
Hiergegen legte die Klägerin Widerspruch ein. Sie übersandte unter anderem eine “Ärztliche Bescheinigung über die Dringlichkeit und Unaufschiebbarkeit einer Psychotherapie„ des Arztes für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. B. Zudem machte sie geltend, bei den von der Beklagten angegebenen zugelassenen Psychotherapeuten habe es sich überwiegend um Verhaltenstherapeuten gehandelt, sie benötige jedoch eine psychoanalytische Therapie. Überdies sei kein einziger der angegebenen Therapeuten persönlich erreichbar gewesen. Eine Psychoanalyse bei einem männlichen Therapeuten komme bei ihr aus kulturellen Gründen nicht in Betracht und eine Fahrzeit von bis zu 90 Minuten zur Therapie sei ihr in Anbetracht ihrer Berufstätigkeit nicht zumutbar. Im April 2017 übersandte die Klägerin eine weitere Liste mit den Namen und Anschriften von elf zugelassenen Psychotherapeutinnen, bei denen sie sich am 9. und 10. April 2017 vergeblich um einen Termin bemüht habe. Die Therapeutinnen hätten lange Wartezeiten gehabt, seien nicht erreichbar gewesen oder hätten keine freien Therapieplätze gehabt oder nur eine Therapie im Kostenerstattungsverfahren angeboten. Überdies habe sich ihre gesundheitliche Lage weiter zugespitzt.
Mit Widerspruchsbescheid ...