Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. elektronische Kommunikation. elektronisches Widerspruchsverfahren. Voraussetzung: Eröffnung des elektronischen Zugangswegs. besonderer Widmungsakt der Behörde erforderlich. Rechtsbehelfsbelehrung
Leitsatz (amtlich)
1. Die Eröffnung elektronischer Kommunikation im regulären Austausch mit dem Bürger lässt allein noch keinen Schluss auf die Bereitschaft der Behörde zum Empfang gesicherter, elektronischer Widersprüche zu (keine konkludente Widmung).
2. Weder die Verpflichtung nach § 2 EGovG noch die seit 1.1.2018 geltende Fassung von § 84 SGG noch § 36a SGB 1 eröffnen den Zugang für gesicherte E-Mail-Widersprüche.
3. Die technische Möglichkeit zum Empfang verschlüsselter E-Mail-Widersprüche macht die Widmung zur Eröffnung des elektronischen Widerspruchsverfahrens nicht entbehrlich.
4. Rechtsbehelfsbelehrungen ohne Hinweis auf die Möglichkeit der Erhebung eines Widerspruchs in elektronischer Form sind nur dann fehlerhaft, wenn die zuständige Behörde den elektronischen Zugangsweg ausdrücklich oder konkludent eröffnet hat.
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Streitig ist, ob die Klägerin fristgemäß Widerspruch gegen einen vorläufigen Bewilligungsbescheid erhoben hat.
Die in einer Berufsausbildung befindliche Klägerin hatte ergänzend zu Ausbildungsvergütung und Berufsausbildungsbeihilfe (BAB) Alg II beantragt und mit vorläufigen Bewilligungsbescheid vom 1.6.2018 für den Zeitraum Mai bis Oktober 2018 Leistungen erhalten unter zusätzlicher Anrechnung von Zahlungen ihrer Mutter als Einkommen.
In der Rechtsbehelfsbelehrung dieses Bescheides wird lediglich darüber belehrt, dass der Widerspruch “schriftlich oder zur Niederschrift bei der im Briefkopf genannten Stelle„ einzulegen ist.
Zu der im Briefkopf des Bescheides genannten Stelle, dem Jobcenter Steglitz-Zehlendorf, findet sich u.a. die Angabe einer E-Mail-Adresse: “Zehlendorf.Team651@jobcenter.de„
Anhaltspunkte gegen einen zeitnahen Zugang des im Juni 2018 abgesandten Bescheides liegen nicht vor.
Das Ausbildungsverhältnis der Klägerin wurde im Rahmen einer arbeitsgerichtlichen Klage zum 28.2.2018 gegen Zahlung einer Abfindung von 2.100 € beendet. Das letzte Entgelt ging zusammen mit der Abfindung am 15.8.2018 auf das Konto der Klägerin (2.521 €) und wurde vom Beklagten mit vorläufigem Änderungsbescheid vom 27.9.2018 dergestalt angerechnet, dass ab September 2018 350 € (1/6 der Abfindung) monatlich sowie weiterhin Unterstützungszahlungen der Mutter als Einkommen angerechnet werden. Auch der Änderungsbescheid belehrt zum Widerspruch allein über die schriftliche Form und die Niederschrift auf der Behörde.
Am 15.10.2018 hatte die Klägerin schriftlich Widerspruch gegen den Bescheid vom 27.9.2018 erhoben, den der Beklagte hinsichtlich des Einwandes zur Anrechnung von Unterstützungszahlungen der Mutter als Einkommen als unzulässig verwarf; insoweit enthalte der Bescheid vom 27.9.2018 gegenüber dem Ausgangsbescheid vom 1.6.2018 keine konstitutive Regelung (Widerspruchsbescheid vom 13.11.2018).
Den mit Fax vom 23.10.2018 erhobenen Widerspruch gegen den Bescheid vom 1.6.2018 wies der Beklagte als verfristet zurück (Widerspruchsbescheid vom 13.11.2018).
Am 17. Dezember 2018 hat die Klägerin Klage erhoben, mit der sie geltend macht, bei den Unterstützungszahlungen ihrer Mutter handele es sich um Darlehen, die zum Teil mit der Abfindung zurückgezahlt worden seien. Ihre Mutter sei wirtschaftlich außerstande, Unterhalt zu zahlen.
Der Widerspruch sei fristgemäß erhoben worden, weil die 1jährige Frist nach § 66 Abs. 2 SGG gelte. Denn gegen die seit 1.1.2018 maßgebende Fassung von § 84 SGG habe der Beklagte in der Rechtsbehelfsbelehrung nicht darauf hingewiesen, dass auch in elektronischer Form nach § 36a SGB I Widerspruch erhoben werden könne.
Technisch verfüge der Beklagte über die Möglichkeit, eine verschlüsselte Mail empfangen zu können.
Der Bevollmächtigte der Klägerin beantragt,
den Widerspruchsbescheid vom 13.11.2018 aufzuheben und den Beklagten unter Abänderung der Bescheide vom 1.6.2018 und 27.9.2018 zu verurteilen, der Klägerin Leistungen ohne Anrechnung von Unterstützungszahlungen der Mutter als Einkommen zu gewähren.
Die Beklagtenvertreterin beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Widerspruch gegen den Bescheid vom 1.6.2018 sei verfristet erhoben worden. Die Rechtsbehelfsbelehrung habe zutreffend auf die bestehenden Zugangswege für einen Widerspruch belehrt. Ein Zugang nach § 36a SGB I sei noch nicht eingerichtet worden.
Zum übrigen Sach- und Streitstand wird ergänzend auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und die beigezogene Leistungsakte verwiesen.
Eine endgültige Bewilligung für den Zeitraum Mai bis Oktober 2018 liegt noch nicht vor.
Entscheidungsgründe
Gegenstand der Klage ist allein die Anrechnung von Unterstützungszahlungen der Mutter der Klägerin als Einkommen nach § 11 SGB II. Die Anrechnung sonstiger Geldzuflüsse im Bewilligungszeitraum wird nicht angefochten.
D...