Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Erhebung des kassenindividuellen Zusatzbeitrags. Anforderungen an die Hinweispflicht der Krankenkasse auf ein Sonderkündigungsrecht der Mitgliedschaft
Leitsatz (amtlich)
Die im konkreten Einzelfall bestehende Hinweispflicht nach § 175 Abs 4 S 6 SGB 5 über das Sonderkündigungsrecht bei Erhebung eines Zusatzbeitrages kann nicht durch ein auf allgemeine Aufklärung nach § 13 SGB 1 konzipiertes Medium, wie Mitgliederzeitschriften oder Internetseiten, erfüllt werden, weil die Kenntnisnahme durch ein solches Format nicht für den Regelfall zu erwarten ist. Mitgliederzeitschriften sind keine Pflichtlektüre für die Versicherten.
Tenor
1. Die Bescheide der Beklagten vom 1. März 2010 und 12. März 2010 jeweils in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 24. November 2010 werden insoweit aufgehoben, als Zusatzbeiträge für die Kalendermonate Februar bis November 2010 erhoben wurden.
2. Im Übrigen werden die Klagen abgewiesen.
3. Die Beklagte hat den Klägern deren außergerichtliche Kosten des Rechtsstreites zur Hälfte zu erstatten.
4. Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten jeweils über die Erhebung des einkommensunabhängigen Zusatzbeitrages durch die beklagte Krankenkasse für die Zeiträume ab Februar 2010 in Höhe von monatlich 8,00 EUR.
Die Kläger sind bei der Beklagten Mitglied, die Klägerin zu 1) nach § 5 Abs 1 Nr. 2a SGB V, der Kläger zu 2) nach Nr. 11 der Vorschrift. Mit undatiertem Schreiben vom Februar 2010 teilte die Beklagte den Klägern mit, dass ab 1. Februar 2010 ein Zusatzbeitrag von monatlich 8,00 EUR erhoben werde. Dieses Schreiben endet auf der ersten Seite “Mit freundlichem Gruß„. Es folgt ein “PS„. Ein Sonderkündigungsrecht findet auf dieser Seite des Schreibens keine Erwähnung. Auf der Rückseite befinden sich zwei Textblöcke. Der erste ist überschrieben: “Wir möchten Ihnen die Zahlung des Zusatzbeitrages so einfach und bequem wie möglich machen:„, der zweite: “Weitere allgemeine Hinweise„. Der erste Textblock weist eine kleinere Schrift als der Text der Vorderseite auf, der zweite Textblock ist in noch lesbarer, jedoch sehr deutlich kleinerer Schrift als der Text der Vorderseite und des ersten Textblocks dargestellt. Als sechster Unterpunkt im zweiten Textblock erfolgen Ausführungen, die überschrieben sind mit: “Rechtsgrundlagen (Auszüge)„. Darin findet sich das wortwörtliche Zitat von § 175 Abs 4 Satz 5 SGB V.
Gegen dieses Schreiben wandten sich die Kläger. Sie erhielten daraufhin jeweils Bescheid mit der Festsetzung des angekündigten Zusatzbeitrages, die Klägerin zu 1) mit Datum vom 12. März 2010, der Kläger zu 2) vom 1. März 2010. Diese Bescheide enthielten keinen Hinweis auf ein Sonderkündigungsrecht. Die Kläger wandten sich gegen die Bescheide jeweils mit ihren Widersprüchen. Die Beklagte wies die Widersprüche mit den Widerspruchsbescheiden vom 24. November 2010 zurück. Sie erhebe von ihren Mitgliedern auf satzungsmäßiger Grundlage ab Februar 2010 einen Zusatzbeitrag unabhängig vom Einkommen der Versicherten von monatlich 8 EUR. Der Verwaltungsrat habe eine entsprechende Satzungsänderung am 28. Januar 2010 beschlossen. Diese sei durch das Bundesversicherungsamt genehmigt worden. Erhebe die Kasse Zusatzbeiträge, stehe den Mitgliedern ein Sonderkündigungsrecht zu.
Die Kläger verfolgen ihr Begehren mit den Klagen vom 1. Dezember 2010 weiter. Sie rügen, dass andere Kassen die Zusatzbeiträge nicht erheben würden und dies auch bei der Beklagten nicht erforderlich wäre, wenn diese ordentlich haushalten würde. Die Beklagte habe zudem nicht geprüft, ob Härtefälle vorliegen würden. Die Klägerin zu 1) erhalte Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II. Der Kläger zu 2) lebe ohne Grundsicherungsleistungen von einer Rente unter dem Existenzsicherungsniveau. Seit über einem Jahr nähmen die Kläger keine ärztlichen Leistungen mehr in Anspruch; so könnten sie die damit verbundenen Zuzahlungen und Praxisgebühren vermeiden. Der von der Beklagten geltend gemachte Zusatzbeitrag ließe sich jedoch durch selbstbestimmtes Verhalten der Kläger nicht beeinflussen und treffe die Kläger in besonders harter Weise.
Die Kläger beantragen,
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1. |
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die Bescheide der Beklagten vom 1. März 2010 und vom 12. März 2010 jeweils in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 24. November 2010 aufzuheben, |
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2. |
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festzustellen, dass eine Pflicht der Kläger zur Zahlung von Zusatzbeiträgen nicht besteht. |
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hält ihre Entscheidung für zutreffend und verweist auf die Hinweise zum Sonderkündigungsrecht auf der Rückseite des Schreibens aus Februar 2010 und darauf, dass in der Mitgliederzeitschrift - Heft 2/2010 Seite 32 - und auf der Internetseite der Beklagten umfassend über das Sonderkündigungsrecht informiert worden sei. Zudem sei der Satzungsbeschluss ordnungsgemäß veröffentlicht worden.
Der Kammer haben außer den Prozessakten die Verwaltungsvorgänge der Beklagten vorgelegen. Sie waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Wegen der Einzelheite...