Entscheidungsstichwort (Thema)

Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Unionsbürger. europarechtskonforme Auslegung. Gleichbehandlungsgebot. Arbeitslosengeld II als besondere beitragsunabhängige Geldleistung. Gewährung vorläufiger Leistungen. Vorlagebeschlüsse zum BVerfG wegen Verfassungswidrigkeit der Neubemessung der Regelbedarfe

 

Leitsatz (amtlich)

1. Ein Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 S 2 SGB 2 besteht für nach Art 2, 3, 4, 70 EGV 883/2004 Berechtigte nicht, weil das Gleichbehandlungsgebot des Art 4 EGV 883/2004 wegen § 30 Abs 2 SGB 1 unmittelbar rechtswirksam ist. Ansprüche auf Arbeitslosengeld II nach §§ 19 Abs 1 S 1 und 3, 20 Abs 1, 2 und 5, 7 Abs 1 S 1 und 22 Abs 1 SGB 2 werden als besondere beitragsunabhängige Geldleistungen von Art 70 EGV 883/2004 erfasst.

2. Das Ermessen der Jobcenter nach §§ 40 Abs 2 Nr 1 SGB 2, 328 Abs 1 S 1 Nr 1 SGB 3 bei der Gewährung von Grundsicherungsleistungen wird hinsichtlich der Vorlagebeschlüsse des SG Berlin zur Vereinbarkeit der Regelbedarfe mit dem Grundgesetz bis zu einer Entscheidung des BVerfG bzw des Gesetzgebers regelmäßig auf die Erteilung einer Vorläufigkeitsbestimmung reduziert, denn eine solche Bestimmung wahrt umfassend die Realisierung des Legalitätsprinzips wie auch effektiver Anspruchsdurchsetzung ohne unnötigen Verwaltungsaufwand.

 

Tenor

1. Der Bescheid der Beklagten vom 29. Dezember 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. April 2012 wird aufgehoben.

2. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin Arbeitslosengeld II für den Zeitraum vom 1. November bis 31. Dezember 2011 in Höhe von monatlich 648,40 EUR und für den Zeitraum vom 1. Januar und bis 29. Februar 2012 in Höhe von monatlich 659,00 EUR zu zahlen.

3. Die Beklagte wird verpflichtet, Arbeitslosengeld II für den Zeitraum vom 1. November 2011 bis 29. Februar 2012 mit folgender Bestimmung zu bewilligen: “Soweit durch die Bewilligungsentscheidung höhere als die bewilligten Leistungen versagt werden, ergeht die Entscheidung gemäß §§ 40 Abs 2 Nr 1 SGB II, 328 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB III vorläufig im Hinblick auf die Vorlagebeschlüsse des Sozialgerichts Berlin vom 25. April 2012 (S 55 AS 9238/12, 1 BvL 10/12 und S 55 AS 29349/11, 1 BvL 12/12) zur Vereinbarkeit der Bestimmung der Regelbedarfe nach § 20 SGB II mit dem Grundgesetz. Im Übrigen erfolgt die Bewilligung endgültig.„

4. Die Beklagte hat der Klägerin deren außergerichtliche Kosten des Rechtsstreites zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Arbeitslosengeld II für den Zeitraum vom 1. November 2011 bis 29. Februar 2012 im Hinblick auf den Umstand, dass sich die polnische Klägerin ausschließlich zur Arbeitssuche in der Bundesrepublik aufgehalten hat.

Die 1954 geborene Klägerin besitzt die polnische Staatsbürgerschaft und reiste im Jahr 2008 in die Bundesrepublik ein. Zum 1. April 2009 schloss sie einen Vertrag über die Anmietung einer Wohnung mit einem Wohnraum mit einer Miete monatlich von 276,40 EUR bruttowarm seit 1. Januar 2011, wovon 88,00 EUR auf Betriebs- und Heizkosten entfallen. Die Warmwasserbereitung erfolgte durch elektrische Durchlauferhitzer. Am 15. November 2011 wurde ihr die Bescheinigung nach § 5 FreizügG/EU erteilt. Sie beantragte am 28. November 2011 bei der Beklagten Arbeitslosengeld II.

Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 29. Dezember 2011 ab. Sie begründete dies damit, dass die gesetzlichen Voraussetzungen nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II nicht vorlägen, weil die Klägerin ihr Aufenthaltsrecht allein aus der Arbeitssuche ableite. Den Widerspruch der Klägerin vom 22. Januar 2012 wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 19. April 2012 zurück. Ein anderer Aufenthaltszweck als der der Arbeitssuche im Sinne von § 7 Abs 2 Satz 2 Nr 2 SGB II sei nicht gegeben. Diese Regelung verstoße auch nicht gegen EU-Recht. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und der Entscheidungsgründe der Beklagten wird gemäß § 136 Abs 2 SGG auf den Widerspruchs-bescheid vom 19. April 2012 Bezug genommen.

Die Klägerin verfolgt ihr Begehren mit ihrer am 23. Mai 2012 erhobenen Klage weiter. Sie hat am 20. April 2012 erneut Leistungsantrag gestellt und den Arbeitsvertrag vom 5. März 2012 vorgelegt, aus dem sich der Beginn einer Beschäftigung ab 1. März 2012 mit einem Umfang von monatlich 40 Stunden ergibt. Mit den Bescheiden vom 30. Mai 2012 bewilligte die Beklagte der Klägerin ab 1. März 2012 Arbeitslosengeld II. Die Klägerin ist der Auffassung dass § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II nicht gemeinschaftsrechtskonform ist, weil die Grundsiche-rungsleistungen nach § 19 ff SGB II nicht als Leistungen der Sozialhilfe im Sinne des § 24 Abs 2 Unionsbürgerrichtlinie zu bewerten seien. Die Klägerin habe ihren Willen dokumentiert, eine Beschäftigung in der Bundesrepublik aufzunehmen und sie hat sich der Arbeitsvermittlung durch die Beklagte bzw die Bundesagentur für Arbeit zur Verfügung gestellt. Dies zeige sich auch an der Beschäftigungsaufnahme ab 1. ...

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