Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungssauschluss für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Unionsbürger. europarechtskonforme Auslegung. Gleichbehandlungsgebot. besondere beitragsunabhängige Geldleistung. Anwendbarkeit des EuFürsAbk. Unwirksamkeit der Vorbehaltserklärung der Bundesregierung
Leitsatz (amtlich)
1. Ein Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 S 2 SGB 2 besteht für nach Art 2, 3, 4, 70 EGV 883/2004 Berechtigte nicht, weil das Gleichbehandlungsgebot des Art 4 EGV 883/2004 wegen § 30 Abs 2 SGB 1 unmittelbar rechtswirksam ist. Ansprüche auf Arbeitslosengeld II nach §§ 19 Abs 1 S 1 und 3, 20 Abs 1, 2 und 5, 7 Abs 1 S 1 und 22 Abs 1 SGB 2 werden als besondere beitragsunabhängige Geldleistungen von Art 70 EGV 883/2004 erfasst.
2. Der persönliche Anwendungsbereich der EGV 883/2004 ist über deren Art 2 und 3 stets für Unionsbürger eröffnet, weil sie als Arbeitsuchende Anspruch auf die Vermittlungsleistungen der Bundesagentur für Arbeit haben. Auch auf Unionsbürger, die Kindergeld (Familienleistung iS von Art 3 Abs 1 Buchst j EGV 883/2004) beziehen, ist die EGV 883/2004 anzuwenden.
3. Für den durch die Geschäftsanweisung SGB 2 Nr 8 vom 23.2.2012 der Bundesagentur für Arbeit mitgeteilten durch die Bundesregierung gem Art 16 Buchst b EuFürsAbk erklärten Vorbehalt zur Anwendbarkeit des EuFürsAbk fehlt eine hinreichende Ermächtigung durch Parlamentsgesetz. Das EuFürsAbk bleibt daher als Spezialvorschrift vor § 7 Abs 1 S 2 Nr 1 und 2 SGB 2 anwendbar.
Nachgehend
Tenor
1. Der Bescheid der Beklagten vom 2. April 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Juni 2012 wird aufgehoben.
2. Die Beklagte hat den Klägern deren außergerichtliche Kosten des Rechtsstreites zu erstatten.
3. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Aufhebung der Bewilligung von Grundsicherungsleistungen für den Monat Mai 2012 wegen einer Änderung der gesetzlichen Regelungen für den Leistungsbezug von Ausländern, die sich ausschließlich zur Arbeitssuche in der Bundesrepublik aufhalten.
Die Kläger sind schwedische Staatsbürger bosnischer Nationalität und reisten am 14. Juni 2010 erneut in die Bundesrepublik ein. Die Klägerin zu 1) ist 1966, die Klägerin zu 2) im Mai 1994 geboren worden, die weiteren Kläger in den Jahren 1998, 1999 bzw 2005. Nach ihrer Einreise bezog die Klägerin zu 1) für ihre vier Kinder Kindergeld in einem Gesamtumfang von 773 EUR. Der Kläger zu 5) erhielt Unterhaltsvorschuss von 180,00 EUR monatlich (das Kindergeld betrug für ihn 215 EUR). Die Unterkunftskosten betrugen 650,00 EUR bruttowarm einschließlich der Bereitstellung von Warmwasser. Den Klägern wurde am 1. Juli 2010 die Bescheinigung nach § 5 FreizügG/EU erteilt.
Die Beklagte bewilligte den Klägern zu 1) bis 4) mit Bescheid vom 7. September 2011 und mit den Änderungsbescheiden vom 26. November und 9. Dezember 2011 Leistungen für den Zeitraum vom 1. Dezember 2011 bis 31. Mai 2012. Mit Bescheid vom 2. April 2012 hob die Beklagte die Bewilligungsbescheide für den Zeitraum vom 1. bis 31. Mai 2012 für die Klägerin zu 1) “und ihre minderjährigen Kinder„ ganz auf und stützte dies auf die §§ 40 Abs 1 und 2 Nr. 3 SGB II, 48 Abs 1 Satz 1 SGB X, 330 Abs 3 SGB III. Die Klägerin und ihre Familienangehörigen seien wegen § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II vom Leistungsbezug nach dem SGB II ausgeschlossen. Die Bundesrepublik habe nunmehr einen Vorbehalt zum Europäischen Fürsorgeabkommen (EuFürsAbk) erklärt. Da sich das Aufenthaltsrecht der Klägerin zu 1) allein aus dem Zweck der Arbeitssuche herleite, seien die Klägerin zu 1) und ihre Familienangehörigen vom Leistungsbezug ausgeschlossen. Dagegen wandten sich die Kläger mit ihrem Widerspruch vom 25. April 2012. Der Leistungsausschluss sei europarechtlichen Bedenken ausgesetzt. Im Eilverfahren vor der 91. Kammer des Sozialgerichts Berlin wurde die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs angeordnet.
Den Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 29. Juni 2012 zurück. Bei der Klägerin zu 1) sei ein anderer Aufenthaltsgrund als der Zweck der Arbeitssuche nicht erkennbar. Daraus folge wegen der Richtlinie 2004/38/EG kein Anspruch auf Gleichbehandlung mit deutschen Staatsangehörigen. Das EuFürsAbk finde nach der Erklärung des Vorbehalts durch die Bundesregierung keine Anwendung mehr. Die Aufhebung habe deshalb nach § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X mit Wirkung für die Zukunft zu erfolgen.
Die Kläger verfolgen ihr Begehren mit ihrer Klage vom 6. Juli 2012 weiter. Sie stützen sich in ihrer Begründung auf den Beschluss im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes. Die Klägerin zu 1) und die Klägerin zu 2) arbeiten seit Juni 2012 (die Klägerin zu 1) in Teilzeit, die Klägerin zu 2) vollschichtig).
Die Kläger beantragen,
den Bescheid der Beklagten vom 2. April 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Juni 2012 aufzuheben.
Die Beklagte sie hält ih...