Entscheidungsstichwort (Thema)

Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitsuche bzw bei fehlendem Aufenthaltsrecht. Unionsbürger. abgeleitetes Freizügigkeitsrecht als Familienangehöriger. Unterhaltsgewährung durch Eltern. fehlende Bedarfsdeckung. wirtschaftliches Abhängigkeitsverhältnis bereits vor dem Zeitpunkt der Einreise

 

Orientierungssatz

1. Einem abgeleiteten Freizügigkeitsrecht nach § 3 Abs 2 Nr 2 FreizügG/EU 2004 steht nicht entgegen, dass der gewährte Unterhalt nicht den vollständigen Bedarf nach dem SGB 2 deckt (vgl LSG Essen vom 15.4.2015 - L 7 AS 428/15 B ER).

2. In der bisherigen bundesdeutschen Rechtsprechung letztlich ungeklärt ist die Frage, ob für ein abgeleitetes Freizügigkeitsrecht nach § 3 Abs 2 Nr 2 FreizügG/EU 2004 ein wirtschaftliches Abhängigkeitsverhältnis des Familienangehörigen zu den in § 2 Abs 2 Nr 1 bis 5 und 7 FreizügG/EU 2004 genannten Personen auch bereits vor der Einreise ins Bundesgebiet bestanden haben muss. Allerdings deuten Vorgaben des EuGH in diese Richtung (vgl EuGH vom 9.1.2007 - C-1/05 = NVwZ 2007, 432).

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 06.06.2023; Aktenzeichen B 4 AS 4/22 R)

 

Tenor

1. Der Bescheid v. 17.03.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides v. 06.09.2016 wird aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts im Zeitraum 01.04.2016 - 28.02.2017 zu gewähren.

2. Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten im notwendigen Umfang zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch - Zweites Buch - (SGB II), insbesondere um das Bestehen eines Leistungsausschlusses für die Klägerin als EU-Ausländerin.

Die im Jahr 1993 geborene Klägerin ist lettischer Staatsangehörigkeit. Sie reiste am 20.10.2015 ins Bundesgebiet ein. Zu diesem Zeitpunkt war sie bereits schwanger. Sie zog in den Haushalt ihrer Eltern zu, die bereits seit dem Jahr 2010 in Deutschland wohnten. Die Eltern standen damals selbst im aufstockenden Bezug von Leistungen nach dem SGB II. Die Klägerin wurde von der Beklagten zunächst mit in die Bedarfsgemeinschaft aufgenommen. Die Eltern verfügten seinerzeit über ein Einkommen aus Erwerbstätigkeit bzw. Arbeitslosengeld I i.H.v. insgesamt ca. 1.300 - 1.800 € monatlich.

Am 07.03.2016 stellte die Klägerin dann bei der Beklagten einen „Neuantrag“ auf Leistungen mit der Begründung, sie habe ab dem 01.04. eine eigene Wohnung angemietet, werde also aus dem gemeinsamen Haushalt mit den Eltern ausziehen. Daraufhin erließ die Beklagte zunächst noch am 07.03.2016 einen Änderungsbescheid, mit dem die Klägerin ab April 2016 nicht mehr in der Bedarfsgemeinschaft der Eltern berücksichtigt wurde. Am 17.03.2016 wurde dann ein weiterer Bescheid erlassen, mit dem der Leistungsantrag der Klägerin abgelehnt wurde. Dies begründete man damit, dass die Klägerin dem Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II unterfalle. Ihr Aufenthaltsrecht ergebe sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche.

Mit Widerspruch v. 29.03.2016 machte die Klägerin geltend, der genannte Leistungsausschluss greife bei ihr nicht ein. Sie könne von ihren Eltern ein Freizügigkeitsrecht nach § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU ableiten, da diese ihr Unterhalt gewährten. Bislang habe sie bei den Eltern kostenfrei gelebt, diese unterstützten sie auch nach dem Auszug mit monatlich 100 €. Sie sei zudem auch schon in Lettland von den Eltern durch Überweisungen auf ihr dortiges Konto unterstützt worden. Sie legte Belege für diverse Überweisungen der Eltern auf ihr Konto nach Lettland im Zeitraum Januar bis September 2015 vor. Diese schwanken stark in der Höhe, erreichen aber einen monatlichen Durchschnittsbetrag i.H.v. ca. 43 €. Zudem reichte sie auch Belege für entsprechende Überweisungen in der Zeit nach ihrer Einreise ein, woraus sich ein durchschnittlicher Monatsbetrag i.H.v. ca. 80 € ergibt.

Der Widerspruch wurde durch die Beklagte am 06.09.2016 zurückgewiesen. Es bestehe kein Freizügigkeitsrecht als Familienangehörige der Eltern, da durch die sehr geringen Überweisungen der Eltern nach Lettland dort kein Abhängigkeitsverhältnis bestanden habe. Dies setze der Tatbestand des § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU aber gerade voraus.

Die Klägerin hat am 04.10.2016 Klage beim Sozialgericht Darmstadt erhoben.

Sie trägt vor, der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II greife bei ihr nicht ein, da sie von den Eltern über § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU ein Freizügigkeitsrecht als Familienangehörige ableiten könne. Sie sei in Lettland auch über die bereits nachgewiesenen Überweisungen hinaus von den Eltern unterstützt worden. So hätten sie die Eltern dort mehrmals jährlich besucht und bei der Gelegenheit Lebensmittel für sie eingekauft und andere Anschaffungen finanziert. Desweiteren sei die Miete für ihre Wohnung in Lettland von den Eltern getragen worden. Das diesbezügliche Geld hätten die Eltern dem zeitweilig in derselben Wohnung...

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