Entscheidungsstichwort (Thema)
Soziales Entschädigungsrecht. Gewaltopferentschädigung. jahrelange Misshandlungen und sexueller Missbrauch in einem katholischen Kinderheim in den Sechzigerjahren
Leitsatz (amtlich)
Opferentschädigung für jahrelangen Missbrauch in katholischem Kinderheim.
Orientierungssatz
1. Ein Anspruch auf Opferentschädigung wegen Misshandlungen und sexuellen Missbrauchs in der Kindheit ist auch für ein sehr lang zurückliegenden Aufenthalt in einem Kinderheim (hier von 1963-1972) zu gewähren, wenn bei allen Mitgliedern der entscheidenden Kammer - trotz fehlender Zeugen und fehlender Belege durch staatsanwaltliche Ermittlungen - aufgrund der glaubhaften Aussagen des Opfers keine ernsthaften Zweifel daran bestehen, dass die vom Kläger beschriebenen Misshandlungen und sexuellen Missbräuche (ua Gruppenvergewaltigungen von Heimkindern auf „Sex-Partys“, welche alle drei bis vier Monate von hochrangigen Geistlichen zu Feierlichkeiten und politischen Ereignissen organisiert gewesen sein sollen und an denen zudem die sorgeberechtigten Nonnen über Spenden mitverdient haben sollen) tatsächlich stattgefunden haben.
2. Hierbei stützt sich das Gericht auch darauf, dass das zuständige Bistum in seiner Verwaltungspraxis im Zusammenhang mit sog „Anträgen in Anerkennung des Leids“ nach den Richtlinien der Deutschen Bischofskonferenz davon ausgeht, dass bei verstorbenen mutmaßlichen Tätern, die von mehr als einem Zeugen benannt würden, eine Missbrauchshandlung vorliege.
3. Bei Missbrauchshandlungen in fortgesetzter Regelmäßigkeit ist eine genaue zeitlich-örtliche Konkretisierung der einzelnen tätlichen Angriffe im Sinne des § 1 OEG für die Zuerkennung des Entschädigungsanspruchs nicht zwingend erforderlich.
Tenor
Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 12. Januar 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. September 2017 verurteilt, die Gesundheitsstörung posttraumatische Belastungsstörung als Schädigungsfolge nach dem OEG anzuerkennen und ab 24. April 2015 eine Versorgung nach dem Grad der Schädigung von 70 zu gewähren.
Der Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu tragen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt Opferentschädigung für erlittene Misshandlungen und sexuellen Missbrauch in einem katholischen Kinderheim und einer Ausbildungsstätte in D-Stadt in der Zeit von 1963 bis 1975.
Der Kläger wurde 1957 in E-Stadt geboren, als Kind einer 22 Jahre alten Deutschen und eines amerikanischen Soldaten. Der Vormundschaftsakte des Amtsgerichts Mainz ist zu entnehmen, dass die Mutter des Klägers „seit Jahren keiner geregelten Arbeit mehr nachgegangen ist und sich von Amerikanern aushalten ließ“. Sie unterhielt „laufend Beziehungen zu amerikanischen Soldaten“ und hatte drei nichteheliche Kinder. Die beiden älteren Brüder des Klägers wurden 1954 und 1956 geboren. Am 3. Januar 1959 griff die Polizei den Kläger zusammen mit seinem Bruder E. in einer Kneipe in E-Stadt auf. Er kam dann zunächst in das Städtische Säuglingsheim in E-Stadt. Seine Mutter musste mehrere mehrwöchige Haftstrafen verbüßen und hatte keinen Kontakt mehr zu ihren Söhnen, sie zahlte auch keinen Unterhalt. Der mittlere Bruder F. wurde von seinem leiblichen Vater aufgenommen und adoptiert. Er lebt mit der Familie des Vaters in den USA. Die beiden anderen Kinder wurden zur „Heimpflege gegeben“.
Im März 1960 kam der Kläger vom Städtischen Säuglingsheim E-Stadt in ein Schwesternheim in G-Stadt. Dort hielt er sich bis Februar 1962 auf. Dann kam er von Februar 1962 bis November 1962 in eine Pflegefamilie in E-Stadt und anschließend in der Zeit vom 28. November 1962 bis 21. März 1963 in das Städtische Kinderheim in E-Stadt.
Am 21. März 1963 wurde der Kläger im Alter von 5 ½ Jahren im katholischen Kinderheim in der D-Straße in D-Stadt aufgenommen. Das Kinderheim wurde von den H. Schwestern geführt. Etwa 10 bis15 Schwestern waren für die Kinder zuständig. Der Kläger lebte bis zum 4. September 1972 in dem Kinderheim, das geht aus einem Auszug des Belegbuchs für die damalige Zeit der Einrichtung hervor. Mit Beschluss des Amtsgerichts Mainz vom 6. Mai 1964 wurde der Mutter das Personensorgerecht für den Kläger und seinen Bruder E. wegen „Vernachlässigung“ entzogen. In einem Bericht der Heimleiterin, Schwester I., vom 21. November 1967 schilderte sie, dass der Kläger sich schnell und gut eingewöhnt habe. Er nässe jedoch noch fast jede Nacht ein, trotz Wecken und Vermeidung von Flüssigkeiten am Abend. Er habe das für einen Bettnässer typische blasse Aussehen. Er habe ein weiches Gemüt, sei freundlich, werde schnell mutlos und zornig. Man erlebe selten ein so zorniges Kind, wie diesen Buben. Der Kläger sei dort ganz zu Hause, es schauten keine Mutter oder sonstigen Angehörigen nach ihm. Sie seien sehr froh, dass sein Taufpate, ein D-Stadter Herr, ihn immer wieder besuche und ihn mit kleinen Geschenken erfreue. So wisse der Kläger, der besonders liebesbedürftig sei, dass doch noch jemand außerhalb des Heimes an ihn denke. In einem weiter...