Entscheidungsstichwort (Thema)
Bedarfsorientierte Grundsicherung. materiell-rechtliche Einordnung der Leistungen nach dem GSiG. Einkommenseinsatz. Anrechnung von Kindergeld. volljähriges behindertes Kind mit eigenem Haushalt. Anwendbarkeit von § 44 SGB 10. keine Pflicht zur Antragstellung nach § 74 Abs 1 EStG. rechtswidrige Vorenthaltung von Leistungen durch den Grundsicherungsträger. keine Befreiung von Leistungspflicht
Leitsatz (amtlich)
1. Die Leistungen nach dem GSiG sind materiell-rechtlich als Sozialhilfeleistungen iS des § 9 SGB 1 anzusehen. Abzustellen ist allein auf den materiell-rechtlichen Wesensgehalt der Leistungen, nicht auf die formell-rechtliche Art ihrer Kodifizierung.
2. Zahlt ein Kindergeldberechtigter einen Zahlbetrag in Höhe des Kindergeldes an das nach dem GSiG berechtigte volljährige Kind mit eigenem Haushalt, hat eine Einkommensanrechnung nicht zu erfolgen, wenn es sich aufgrund eines rechtswidrigen Hinweises des Grundsicherungsträgers um eine Zahlung anstelle des Grundsicherungsträgers handelt.
3. § 44 Abs 4 SGB 10 ist auch auf sozialhilferechtliche Ansprüche mit der Folge anzuwenden, dass sie unter den Voraussetzungen des § 44 SGB 10 für die Vergangenheit nachträglich zu zahlen sind.
Orientierungssatz
1. Die Verpflichtung des grundsicherungsberechtigten volljährigen behinderten Kindes auf Stellung eines Antrags nach § 74 Abs 1 S 1 EStG im Rahmen des Vorrangprinzips gem § 2 Abs 1 S 1 GSiG besteht nicht.
2. Kommt ein grundsicherungsrechtlich privilegierter Unterhaltsschuldner seiner Zahlungspflicht nur nach, weil und soweit der Grundsicherungsleistungsträger dem Leistungsberechtigten Leistungen rechtswidrig vorenthält, ist hierin eine vorläufige Bedarfsdeckung zu sehen, welche den vorrangig verpflichteten Grundsicherungsträger nicht von seiner Leistungspflicht befreit.
Tenor
1. Der Bescheid des Beklagten vom 17. Februar 2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. August 2006 wird aufgehoben und der Beklagte verurteilt, an den Kläger Grundsicherungsleistungen nach dem GSiG unter Abänderung des Bescheides vom 30. März 2004 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 12. August 2004 ohne Berücksichtigung des Kindergeldes als Einkommen für den Zeitraum vom 01. Januar 2003 bis 31. Dezember 2004 zu zahlen.
2. Der Beklagte hat dem Kläger die Kosten des Rechtsstreites zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Beklagte an den Kläger Grundsicherungsleistungen nach dem Grundsicherungsgesetz (im Folgenden: GSiG) vom 1. Januar 2003 bis 31. Dezember 2004 ohne Anrechnung des Kindergeldes als Einkommen im Wege des Zugunstenverfahren nach § 44 SGB X zu zahlen hat.
Der 1969 geborene Kläger ist jedenfalls seit dem 1. Januar 2003 dauerhaft erwerbsgemindert wegen einer geistigen Behinderung. Er steht deswegen auch unter der Betreuung seiner Mutter mit Einwilligungsvorbehalt. Er wohnte im streitigen Leistungszeitraum in einer eigenen Wohnung. Der Mutter des Klägers beanspruchte Kindergeld für den Kläger gemäß § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 3 EStG. Aus einem Telefonvermerk der Mutter des Klägers geht hervor, dass der Beklagte am 3. Dezember 2003 ihr gegenüber telefonisch mitteilte, sie müsse das an sie überwiesene Kindergeld auf ein Konto des Klägers weiterleiten, weil es vorrangig als Einkommen des Klägers zu berücksichtigen sei. Die Mutter des Klägers richtete im Anschluss an das laut Vermerk behauptete Telefongespräch einen entsprechenden Dauerauftrag zur Überweisung eines Zahlbetrages in Höhe des Kindergeldes an den Kläger ein. Mit Bescheid vom 30. März 2004 bewilligte der Beklagte dem Kläger Grundsicherungsleistungen nach dem GSiG für den Zeitraum vom 1. Januar 2003 bis 31. Dezember 2004 unter Berücksichtigung des Kindergeldes in Höhe von monatlich 154,00 Euro als Einkommen des Klägers. Die Mutter bestätigt in einer Erklärung vom 7. April 2004 gegenüber dem Beklagten, das an sie überwiesene Kindergeld der Kindergeldkasse B-Stadt leite sie per Dauerauftrag an ihren Sohn unmittelbar weiter. Mit Bescheid vom 12. August 2004 änderte der Beklagte die Bewilligung ab 1. Juli 2004 wegen geänderter Kosten der Unterkunft. Mit Schreiben vom 23. Februar 2005 beanstandete am 24. Februar 2005 der Kläger die Kindergeldanrechnung für den Zeitraum vom 1. Januar 2003 bis 31. Dezember 2004 unter Hinweis auf die Rechtssprechung des Bundesverwaltungsgerichts vom 10. Dezember 2004 - 5 B 47.04 -Mit Widerspruchsbescheid vom 7. September 2005 wies der Beklagte das als Widerspruch ausgelegte Schreiben unter Hinweis auf die Bestandskraft der angefochtenen Bewilligungsbescheide zurück. Mit weiterem Bescheid vom 17. Februar 2006 lehnte er eine Änderung im Wege des Zugunstenverfahrens nach § 44 SGB X ab. Zur Begründung führte der Beklagte aus, die Anrechnung des Kindergeldes als Einkommen des Klägers sei zu Recht erfolgt. Bereits im Antragsformular sei das Kindergeld als Einkommen des Klägers ausgewiesen gewesen. Eine entsprechende Erklärung sei auch in den Folgeanträgen erfolgt. Weiter sei aus einem vorgelegten Kontoausz...