Entscheidungsstichwort (Thema)
Recht zur nachträglichen Beitragserhebung unter Berücksichtigung des Verwirkungstatbestandes
Orientierungssatz
1. Beanstandungsfrei durchgeführte Betriebsprüfungen begründen keinen Vertrauenstatbestand hinsichtlich der Nacherhebung von Gesamtsozialversicherungsbeiträgen. Eine über eine bloße Kontrollfunktion hinausgehende Bedeutung kommt einer Betriebsprüfung nicht zu. Weder Arbeitgeber noch Arbeitnehmer können aus vergangenen Betriebsprüfungen Rechte herleiten.
2. Einer nachträglichen Beitragserhebung durch den Rentenversicherungsträger steht das Rechtsinstitut der Verwirkung nur dann entgegen, wenn der Berechtigte die Ausübung seines Rechts während eines längeren Zeitraumes unterlassen hat und weitere besondere Umstände hinzutreten, die das verspätete Geltendmachen des Rechts nach Treu und Glauben dem Verpflichteten gegenüber als illoyal erscheinen lassen.
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 481.270,36 Euro festgesetzt.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist die Nachforderung von Sozialversicherungsbeiträgen und Umlagen für den Zeitraum vom 01.01.2011 bis zum 31.12.2012 aufgrund einer Betriebsprüfung nach § 28p Abs. 1 Viertes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IV) streitig. Die Klägerin macht insbesondere geltend, der Nachforderung stehe die Bestandskraft eines Bescheides aufgrund einer vorangegangenen Betriebsprüfung entgegen.
Die Klägerin betreibt ein Bäckereiunternehmen und unterhält eine Vielzahl von Filialgeschäften.
Mit Bescheid vom 26.09.2013 forderte die Beklagte von der Klägerin nach einer vom 16.09.2013 bis 18.09.2013 durchgeführten Betriebsprüfung Sozialversicherungsbeiträge und Umlagen sowie Säumniszuschläge in Höhe von insgesamt 1.623,47 Euro nach. Gründe waren die unzutreffende versicherungsrechtliche Beurteilung zweier geringfügig Beschäftigter, dreier befristet Beschäftigter, eines Studenten und die Nichtberücksichtigung der Beitragspflicht von Geschenken.
Vom 30.03.2015 bis zum 31.03.2015 führte die Beklagte erneut eine Betriebsprüfung bei der Klägerin durch. Nach Anhörung der Klägerin mit Schreiben vom 21.12.2015, auf welche die Klägerin sich dahingehend äußerte, der beabsichtigten Nachforderung stehe für die Jahre 2011 und 2012 der Bescheid vom 26.09.2013 aufgrund der zuvor durchgeführten Betriebsprüfung entgegen, forderte die Beklagte von der Klägerin mit Bescheid vom 04.04.2016 für den Zeitraum vom 01.01.2011 bis zum 30.06.2015 Sozialversicherungsbeiträge und Umlagen in Höhe von insgesamt 832.241,48 Euro nach. Zur Begründung führte die Beklagte aus, in diversen Fällen seien Urlaubsentgelt und Lohnfortzahlung fehlerhaft ermittelt worden. In Zeiten des Erholungsurlaubes, der Arbeitsunfähigkeit und an Feiertagen bemesse sich das Arbeitsentgelt der Arbeitnehmer nach dem Lohnausfallprinzip. Zum Arbeitsentgelt gehörten insoweit auch Zuschläge und Zulagen. Solche habe die Klägerin nicht gezahlt. Da aber ein Anspruch der Arbeitnehmer hierauf bestehe, gehörten sie unabhängig von der tatsächlichen Zahlung zum beitragspflichtigen Arbeitsentgelt. Die bei der Klägerin beschäftigten Arbeitnehmer hätten in den Jahren 2011 bis 2015 durchschnittlich 20 Tage Erholungsurlaub gehabt. Es gelte eine 5-Tage-Woche. Der durchschnittliche Krankenstand werde nach Zahlen des Bundesministeriums für Gesundheit auf 3,67 % geschätzt. Die zusätzlich zu verbeitragenden Zuschläge würden daher durch Multiplikation der Summe der in den Jahren 2011 bis 2015 gezahlten Zuschläge mit dem Prozentsatz der Gesamtfehlzeiten ermittelt. Da die personenbezogenen Krankheits-, Feiertags- und Urlaubszeiten mangels entsprechender Aufzeichnungen im Prüfzeitraum nicht festgestellt werden könnten, könne die Beitragsberechnung nur im Rahmen eines Summenbescheides erfolgen. Eine Verjährung der Beitragsansprüche sei nicht eingetreten; die Verjährung sei für die Dauer der Prüfung gehemmt gewesen. Eine Bindungswirkung des Bescheides vom 26.09.2013 aufgrund der vorangegangenen Betriebsprüfung bestehe schon deshalb nicht, weil dort keine Beiträge für den nunmehr beanstandeten Sachverhalt nachgefordert worden seien.
Hiergegen erhob die Klägerin am 26.04.2016 Widerspruch. Zur Begründung wiederholte und vertiefte sie ihre bisherigen Ausführungen.
Mit Widerspruchsbescheid vom 03.11.2016 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück und führte aus, eine materielle Bindungswirkung aus Vorprüfungen könne sich nur dann und soweit ergeben, als Versicherungspflicht bzw. -freiheit personenbezogen für bestimmte Zeiträume durch gesonderten Verwaltungsakt festgestellt worden seien, was vorliegend nicht der Fall gewesen sei.
Zur Begründung ihrer hiergegen am 05.12.2016 erhobenen Klage wiederholt und vertieft die Klägerin wiederum im Wesentlichen ihre bisherigen Ausführungen.
Die Klägerin beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 04.04.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.11.2016 insoweit aufzuheben, als darin Beiträge für die Zeit vom 01.01.2011 bis zum 31.12....