Entscheidungsstichwort (Thema)

Abgrenzung von Sozial- und Jugendhilfe. Vorrangigkeit der sozialhilferechtlichen Eingliederungshilfe nach § 10 Abs 4 SGB 8. Kostenerstattung für stationäre Eingliederungsmaßnahme von überörtlichem Träger der Sozialhilfe

 

Orientierungssatz

Maßgeblich für die Abgrenzung zwischen der Jugendhilfe für seelisch behinderte Kinder oder Jugendliche und der Eingliederungshilfe für geistig behinderte Kinder oder Jugendliche anhand des § 10 Abs 4 SGB 8 ist allein die Frage, ob der Hilfeempfänger auch geistig behindert ist.

 

Tenor

Der Beklagte wird verurteilt, dem Kläger die in Sachen E X vom 22.10.2005 bis zum 31.01.2008 entstandenen Aufwendungen in Höhe von 111.501,53 Euro nebst 5% Zinsen über dem Basiszinssatz seit dem 28.05.2008 zu erstatten.

Es wird festgestellt, dass der Beklagte auch künftig vorrangig vor Jugendhilfeleistungen für die Erbringung von Leistungen der stationären Eingliederungshilfe nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zuständig ist, solange der IQ des E X kleiner/gleich 70 ist.

Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.

 

Tatbestand

Der Kläger als Träger der Jugendhilfe begehrt von dem Beklagten als überörtlichem Träger der Sozialhilfe, der für stationäre Eingliederungsmaßnahmen zuständig ist, die Erstattung der Kosten für die Unterbringung des Jugendlichen E X im Zeitraum vom 22.11.2005 bis zum 31.01.2008 in Höhe von 111.501,53 Euro nebst Zinsen.

Der am 00.00.1992 geborene E X war in der Zeit vom 22.11.2005 bis zum 10.08.2006 in einer Einrichtung für Kinder- und Jugendhilfe in X1 untergebracht. Seit dem 14.08.2006 befindet er sich in der Einrichtung Kinderheimat der Stiftung F in M. Die stationäre Betreuung wurde erforderlich, weil E X von seinem Stiefvater geschlagen wurde und vermutlich den sexuellen Missbrauch seiner älteren Halbschwester mitbekommen hat. Er wurde in sämtlichen Einrichtungen, in denen er sich befand, verhaltensauffällig dergestalt, dass er sich aggressiv und provokant zeigte. Es kam bereits zu sexuellen Übergriffen und auch zu Tierquälereien. Für die weiteren Einzelheiten wird auf die Beiakte verwiesen. Der Beklagte erbrachte im genannten Zeitraum Leistungen in Höhe von 117.149,68 Euro, von denen 4004 Euro durch Kindergeld und 1644,15 Euro durch Waisenrente gedeckt werden konnten.

Mit Schriftsatz vom 08.06.2006 forderte der Kläger den Beklagten auf, die Kosten für den Zeitraum ab dem 22.11.2005 zu erstatten und ferner die Kosten der künftigen Unterbringung in der Einrichtung F ab dem 14.08.2006 zu übernehmen. Hinsichtlich der geistigen Behinderung des E X fügte der Kläger die ärztliche Stellungnahme des Nervenfacharztes Dr. L vom Gesundheitsamt Q vom 02.06.2006 bei. Nach weiterer Korrespondenz lehnte der Beklagte mit Schriftsatz vom 10.10.2006 den Erstattungsanspruch und den Zuständigkeitswechsel ab. Der stationäre Betreuungsbedarf werde nicht grundsätzlich angezweifelt. Jedoch bestehe er nicht aufgrund der leichten geistigen Behinderung, sondern aufgrund der im Vordergrund stehenden seelischen Behinderung. Deshalb sei bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres das Jugendamt zuständig. Mit Schriftsatz vom 04.01.2007 legte der Kläger nochmals seinen Standpunkt gegenüber dem Beklagten dar. Eine Unterbringung in einer Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe sei wegen des enthemmten Sexualverhaltens infolge geistiger Behinderung auch im Interesse der dort untergebrachten anderen Kinder und Jugendlichen nicht mehr möglich gewesen. Die Unterbringung außerhalb des häuslichen Umfeldes sei durch die geistige Retardierung notwendig geworden, da er im häuslichen Umfeld nicht mehr führbar oder förderbar gewesen sei. Demgegenüber lebe der jüngere Bruder nach wie vor bei der Mutter. Mit Schriftsatz vom 11.04.2007 verneinte der Beklagte eine geistige Behinderung als Grund des stationären Betreuungsbedarfs. Mit Schriftsatz vom 17.09.2007 forderte der Kläger letztmalig unter Klageandrohung zum Anerkenntnis auf.

Mit Schriftsatz vom 14.03.2008 erhebt der Kläger nun unter erneuter Darlegung seines Standpunktes Klage. Der Erstattungsanspruch ergebe sich aus § 104 Abs. 1 Satz 2 SGB X.

Der Kläger beantragt,

den Beklagten zu verpflichten, ihm die im Fall E X vom 22.01.2005 bis zum 31.01.2008 entstandenen Aufwendungen in Höhe von 111.501,53 Euro nebst 5% Zinsen über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu erstatten und den Beklagten zu verpflichten, diese Kosten auch für die Zukunft zu übernehmen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zuständig für die Kostentragung sei der Kläger als Träger der Jugendhilfe.

Im Übrigen wird wegen der Einzelheiten Bezug genommen auf die Gerichtsakte und die beigezogene Akte des Verwaltungsverfahrens.

 

Entscheidungsgründe

Die Klage ist als allgemeine Leistungsklage kombiniert mit der Feststellungsklage für die Zukunft zulässig, da der Kläger gegenüber der Beklagten als Kommune in einem Erstattungsverfahren nicht durch Verwaltungsakt handeln kann.

Die Klage ist auch begründet. Der Kläger hat für den streitgegenständlichen Z...

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