Entscheidungsstichwort (Thema)

Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Anwendbarkeit auch auf Unionsbürger ohne materielles Aufenthaltsrecht. Sozialhilfe. Leistungsausschluss für dem Grunde nach Leistungsberechtigte nach dem SGB 2. Anwendbarkeit auch auf Unionsbürger mit Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2. Leistungsausschluss nach § 23 Abs 3 S 1 SGB 12. keine Leistungsgewährung nach § 23 Abs 1 S 3 SGB 12. Verfassungsmäßigkeit

 

Leitsatz (amtlich)

Erwerbsfähige Ausländer, die dem Leistungsausschluss für Arbeitslosengeld II nach § 7 Abs 1 S 2 SGB II unterfallen, haben keinen Anspruch auf Sozialhilfeleistungen nach § 23 Abs 1 S 3 SGB XII (entgegen BSG vom 3.12.2015 - B 4 AS 44/15 R = SozR 4-4200 § 7 Nr 43).

 

Orientierungssatz

1. § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 ist auch auf die Fälle anwendbar, in denen ein Aufenthaltsrecht zum Zweck der Arbeitsuche nie bestanden hat oder fortgefallen ist und kein anderes Aufenthaltsrecht feststellbar ist (sog Erst-Recht-Schluss).

2. § 21 S 1 SGB 12 gilt auch für erwerbsfähige Unionsbürger, die nach § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 von den Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende ausgeschlossen sind.

3. Dass der Gesetzgeber mit dem Leistungsausschluss für EU-Ausländer, die ihr Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ableiten, den Nachrang des deutschen Sozialleistungssystems gegenüber dem des Herkunftslandes normiert, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

4. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Entscheidung des BVerfG vom 18.7.2012 - 1 BvL 10/10 ua = BVerfGE 132, 134 = SozR 4-3520 § 3 Nr 2. Die Situation eines Asylbewerbers ist nicht mit der eines EU-Bürgers vergleichbar. Während ein Asylbewerber, der sich auf eine politische Verfolgung in seinem Heimatland beruft, regelmäßig nicht in sein Herkunftsland zurückkehren kann, ist dies dem EU-Bürger, der von seinem Freizügigkeitsrecht zum Zweck der Arbeitsuche Gebrauch gemacht hat und in die Bundesrepublik Deutschland eingereist ist, grundsätzlich ohne Weiteres möglich.

 

Tenor

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I.Die Beteiligten streiten im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes um die Verpflichtung des Antragsgegners, der Antragstellerin Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) zu gewähren.

Die am 22.03.1991 in Avezzano/ Italien geborene Antragstellerin ist italienische Staatsangehörige. Sie lebte zwischenzeitlich in Brasilien. Dort begann sie ein Jurastudium, das sie jedoch nicht abschloss.Im Anschluss hieran nahm sie Unterricht an einer englischen Sprachschule und absolvierte eine Berufsausbildung zur Stewardess, die sie auch erfolgreich zu Ende führte.

Im Jahr 2012 lernte die Antragstellerin ihren in Deutschland lebenden Freund kennen und reiste am 04.06.2012 in Deutschland ein.

Sie war zunächst in einem Eiscafe in Gera beschäftigt. Im Anschluss hieran arbeitete sie in verschiedenen Tätigkeiten, unter anderem als Spielhallenaufsicht. Zuletzt war die Antragstellerin gemäß einem Arbeitsvertrag vom 01.09.2015 bei der F. & E. GbR - auch als Spielhallenaufsicht beschäftigt. Mit Schreiben vom 07.10.2015 kündigte die Antragstellerin dieses Arbeitsverhältnis fristlos.

Bereits am 11.06.2013 hatte die Antragstellerin beim Antragsgegner Leistungen nach dem SGB II beantragt. Der Antragsgegner gewährte ihr in der Folge - teilweise ergänzend - Leistungen nach dem SGB II, nach Aktenstand zuletzt für den Zeitraum bis zum 30.09.2015.

Am 20.10.2015 stellte die Antragstellerin beim Antragsgegner einen Weiterbewilligungsantrag.

Mit Bescheid vom 08.12.2015 lehnte der Antragsteller den Antrag ab. Da die Antragstellerin ihre letzte Stelle selbst gekündigt habe, wirke ihr Aufenthaltsrecht als Arbeitnehmerin aus dieser Stelle nicht fort. Die Antragstellerin sei gemäß § 7 Abs.1 Satz 2 Nr.2 SGB II vom Leistungsbezug ausgeschlossen, weil sich ihr Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergebe.

Gegen diesen Ablehnungsbescheid erhob die Antragstellerin am 18.12.2015 Widerspruch. Zunächst habe sie die Stelle nicht selbst gekündigt. Der Arbeitgeber habe ihr nicht den vollen Lohn für den Monat September 2015 ausgezahlt. Als sie diesen im Oktober 2015 hierauf angesprochen habe, habe er einen Gesprächstermin in seinem Büro mit ihr vereinbart. Dort habe er ihr ein vorformuliertes Kündigungsschreiben vorgelegt. Da sie der deutschen Sprache nicht mächtig sei, habe sie das Schreiben für eine arbeitgeberseitige Kündigung gehalten, deren Empfang sie mit ihrer Unterschrift quittieren müsse. Zudem sei der Leistungsausschluss des § 7 Abs.1 Satz 2 Nr.2 europarechtswidrig und es bestünden erhebliche Zweifel an der Wirksamkeit des von Bundesrepublik Deutschland erklärten Vorbehalts gegen das Europäische Fürsorgeabkommen (EFA) im Hinblick auf Leistungen nach dem SGB II.

Am 21.12.2015 hat die Antragstellerin einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit dem Ziel einer...

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