Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Anwendbarkeit auch auf Unionsbürger ohne materielles Freizügigkeits- bzw Aufenthaltsrecht. Europarechtskonformität. Sozialhilfe. Leistungsausschluss für dem Grunde nach Leistungsberechtigte nach dem SGB 2. Leistungsausschluss nach § 23 Abs 3 S 1 Alt 2 SGB 12. keine Leistungsgewährung nach § 23 Abs 1 S 3 SGB 12. Nichtanwendbarkeit auf die Hilfe zum Lebensunterhalt. Verfassungsmäßigkeit
Leitsatz (amtlich)
1. § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 ist auf Unionsbürger ohne materielle Freizügigkeitsberechtigung entsprechend (“erst recht„) anwendbar (Anschluss an BSG vom 3.12.2015 - B 4 AS 44/15 R = SozR 4-4200 § 7 Nr 43; Aufgabe von SG Dortmund vom 14.4.2014 - S 32 AS 4882/12).
2. Zum Begriff des Arbeitnehmers nach Art 45 AEUV und zum Vorliegen der Voraussetzungen einer Freizügigkeitsberechtigung als Arbeitnehmer (“Arbeitnehmerstatus„) nach § 2 Abs 2 Nr 1 FreizügG/EU (juris: FreizügG/EU 2004) bei geringfügigen, bei unregelmäßig und abweichend von den Regelungen des Arbeitsvertrags durchgeführten und bei befristeten Arbeits- bzw Beschäftigungsverhältnissen, zu den Voraussetzungen eines “Fortwirkens„ des Arbeitnehmerstatus nach § 2 Abs 3 FreizügG/EU - hier jeweils verneint - sowie zur Unzulässigkeit einer kumulativen Betrachtung mehrerer Arbeits- bzw Beschäftigungsverhältnisse bei der Prüfung der Voraussetzungen von § 2 Abs 2 Nr 1 FreizügG/EU.
3. Zu den Voraussetzungen einer Freizügigkeitsberechtigung als nicht erwerbstätiger Unionsbürger nach § 2 Abs 2 Nr 5 iVm § 4 FreizügG/EU.
4. Zu den Voraussetzungen einer Freizügigkeitsberechtigung als Familienangehöriger nach § 2 Abs 2 Nr 6 iVm § 3 FreizügG/EU, insbesondere zur Voraussetzung der Unterhaltsgewährung gem § 3 Abs 2 Nr 2 FreizügG/EU.
5. Zu den Voraussetzungen einer Freizügigkeitsberechtigung als Inhaber eines Daueraufenthaltsrechts nach § 2 Abs 2 Nr 7 iVm § 4a FreizügG/EU.
6. Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 verstößt nicht gegen EU-Recht (Aufgabe von SG Dortmund vom 14.4.2014 - S 32 AS 4882/12).
Die entsprechende Auslegung des EU-Rechts durch den EuGH in dessen Urteilen vom 15.9.2015 - C-67/14 “Alimanovic„ = NJW 2016, 555 und vom 11.11.2014 - C-333/13 “Dano„ = NJW 2015, 145 ist für die nationalen Gerichte der EU-Mitgliedsstaaten bindend (entgegen SG Mainz vom 12.11.2015 - S 12 AS 946/15 ER = juris RdNr 41 ff).
7. Sowohl § 21 S 1 SGB 12 als auch § 23 Abs 3 S 1 Alt 2 SGB 12 stehen der Gewährung von Leistungen nach § 23 Abs 1 S 3 12 iVm §§ 27 ff SGB 12 an erwerbsfähige Hilfebedürftige, die EU-Staatsangehörige sind, entgegen. § 21 S 1 SGB 12 stellt grundsätzlich eine “Anwendungssperre„ für erwerbsfähige Hilfebedürftige im Hinblick auf den Zugang zu Leistungen nach dem SGB 12 dar; die vom BSG zu dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs 4 SGB 2 entwickelten Grundsätze lassen sich nicht auf den Leistungsausschluss des § 7 Abs 1 S 1 Nr 2 SGB 2 übertragen. Außerdem lässt der Leistungsausschluss gem § 23 Abs 3 S 1 Alt 2 SGB 12 keinen Raum für die Gewährung von Leistungen im Ermessenswege gem § 23 Abs 1 S 3 SGB 12 (entgegen BSG vom 3.12.2015 - B 4 AS 44/15 R aaO und vom 20.1.2016 - B 14 AS 35/15 R = SozR 4-4200 § 7 Nr 47; Anschluss an SG Dortmund vom 11.2.2016 - S 35 AS 5396/15 ER, LSG Essen vom 7.3.2016 - L 12 SO 79/16 B ER, LSG Celle-Bremen vom 22.2.2016 - L 9 AS 1335/15 B ER = NdsRpfl 2016, 168).
8. Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 verletzt - auch unter Berücksichtigung der aufgrund von § 21 S 1 SGB 12 und § 23 Abs 3 S 1 Alt 2 SGB 12 fehlenden Anspruchsberechtigung in Bezug auf Leistungen nach dem SGB 12 - nicht das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art 1 Abs 1 iVm Art 20 Abs 1 GG (Anschluss an SG Dortmund vom 11.2.2016 - S 35 AS 5396/15 ER, LSG Essen vom 7.3.2016 - L 12 SO 79/16 B ER, LSG Celle-Bremen vom 22.2.2016 - L 9 AS 1335/15 B ER aaO, SG Berlin vom 22.2.2016 - S 95 SO 3345/15 ER, LSG Hamburg vom 15.10.2015 - L 4 AS 403/15 B ER und LSG München vom 1.10.2015 - L 7 AS 627/15 B ER).
9. Der vom BSG (ua) in dessen Urteilen vom 3.12.2015 - B 4 AS 44/15 R aaO und vom 20.1.2016 - B 14 AS 35/15 R aaO vertretenen Auffassung, erwerbsfähige Hilfebedürftige, die EU-Staatsangehörige und vom Leistungsausschluss des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 betroffen sind, besäßen trotz § 21 S 1 SGB 12 und § 23 Abs 3 S 1 Alt 2 SGB 12 zumindest einen Anspruch auf fehlerfreie Ermessensentscheidung über die Gewährung von Leistungen nach § 23 Abs 1 S 3 SGB 12 und das entsprechende Ermessen des Sozialhilfeträgers sei im Regelfall bei einem “verfestigten Aufenthalt„ nach mindestens sechs Monaten auf Null reduziert, ist auch deshalb nicht zu folgen, weil sich aus ihr eine sozialleistungsrechtliche “Achterbahnfahrt„ ergeben würde. Denn diese Personen besäßen nach diesem Ansatz ausgerechnet in den ersten drei Monaten ihres Aufenthalts in Deutschland einen gebundenen Anspruch auf Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt in ge...