Entscheidungsstichwort (Thema)

Einstweiliger Rechtsschutz. vorliegendes Rechtsschutzbedürfnis. Nichtbestehen eines Anordnungsanspruchs. Antrag auf vorläufige Leistungen. Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Unionsbürger. Weiterleitung des Antrag an Sozialhilfeträger. anderes Aufenthaltsrecht der Eltern durch Ausübung der elterlichen Sorge für ein Kind in Schulausbildung. keine Anwendung auf volljährige Geschwister. Verfassungsmäßigkeit. keine Bindung an Rechtsprechung des BSG

 

Leitsatz (amtlich)

1. Leitet das Jobcenter nach § 16 Abs 2 S 1 SGB I einen auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II gerichteten Antrag eines erwerbsfähigen Hilfebedürftigen, der EU-Staatsangehöriger und nach Auffassung des Jobcenters von dem Leistungsausschluss gem § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II erfasst ist, an den Sozialhilfeträger weiter und informiert den Antragsteller über diese Auffassung und die Weiterleitung, so ergibt sich daraus ein Rechtsschutzbedürfnis für einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 86b Abs 2 S 2 SGG gegen das Jobcenter. Dies gilt jedenfalls dann, wenn erkennbar ist, dass der Sozialhilfeträger der Rechtsprechung des BSG in Bezug auf §§ 21, 23 Abs 3 und Abs 1 S 3 SGB XII nicht folgen und keine Sozialhilfeleistungen erbringen wird, und unabhängig von der Frage, ob § 16 Abs 2 S 1 SGB I auf derartige Konstellationen überhaupt Anwendung findet.

2. Ein Aufenthaltsrecht nach Art 10 VO (EU) 492/2011 (vormals: Art 12 VO (EWG) 1612/68) stellt ein anderes Aufenthaltsrecht als ein solches "allein aus dem Zweck der Arbeitsuche" iS des Leistungsausschlusses des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II in der derzeit geltenden Fassung dar (entgegen LSG Celle-Bremen vom 15.1.2016 - L 15 AS 226/15 B ER; Anschluss an LSG Hamburg vom 27.5.2016 - L 4 AS 160/16 B ER, an LSG Halle vom 29.4.2016 - L 4 AS 182/16 B ER und vom 13.4.2016 - L 2 AS 37/16 B ER, an LSG Essen vom 27.1.2016 - L 19 AS 29/16 B ER und an BSG vom 3.12.2015 - B 4 AS 43/15 R = SozR 4-4200 § 7 Nr 46).

3. Eine Übertragung eines Aufenthaltsrecht nach Art 10 VO (EU) 492/2011(juris: EUV 492/2011 auf volljährige Geschwister, die selbst nicht die Voraussetzungen von Art 10 VO (EU) 492/2011 erfüllen, findet nicht statt. Diese sind auch nicht freizügigkeitsberechtigte Familienangehörige iS des § 2 Abs 2 Nr 6 iVm § 3 FreizügG/EU (juris: FreizügG/EU 2004) (aus einem anderen Grund als dem der Arbeitsuche). Das ergibt sich daraus, dass Inhaber des Aufenthaltsrechts aus Art 10 VO (EU) 492/2011 nicht Unionsbürger iS des § 3 Abs 1 S 1 FreizügG/EU sind. Der Anwendungsbereich von § 3 Abs 1 S 1 FreizügG/EU ist auch nicht im Wege einer erweiternden Analogie dahingehend auszulegen, dass er auch für Familienangehörige von Unionsbürgern, die ein Aufenthaltsrecht nach Art 10 VO (EU) 492/2011 besitzen, gilt. Auch aus § 11 Abs 1 S 11 FreizügG/EU iVm §§ 27ff AufenthG (juris AufenthG 2004) oder § 7 Abs 1 S 3 AufenthG iVm Art 6 GG ergibt sich für solche Geschwister kein Aufenthaltsrecht.

4. Eine einstweilige Anordnung über die vorläufige Verpflichtung zur Gewährung vorläufiger Leistungen nach § 40 Abs 2 Nr 1 SGB II iVm § 328 Abs 1 S 1 Nr 1 SGB III wegen des durch den Vorlagebeschluss des SG Mainz vom 18.4.2016 - S 3 AS 149/16 - eingeleiteten Normenkontrollverfahrens nach Art 100 GG bei dem BVerfG kommt nicht in Betracht, weil der Kläger sich im dortigen Fall nicht auf eine Freizügigkeitsberechtigung als Unionsbürger berufen kann sondern Angehöriger eines Drittstaats und Inhaber einer Aufenthaltserlaubnis nach § 16 Abs 4 AufenthG ist. Die aufenthaltsrechtliche Situation ist insofern eine grundlegend andere, so dass sich jedenfalls zum Teil andere verfassungsrechtliche Fragen stellen.

5. Eine Rechtsprechung des BSG erzeugt, auch wenn sie gefestigt ist, keine "Quasi-Bindung" der Instanzgerichte im einstweiligen Rechtsschutzverfahren - etwa aufgrund einer Folgenabwägung -, wenn das erkennende Instanzgericht sich bei geklärtem Sachverhalt abschließend eine entgegenstehende Auffassung über das (Nicht-)Bestehen des Anordnungsanspruchs gebildet hat. Eine solche Abweichung im Eilverfahren von der BSG-Rechtsprechung verstößt auch nicht gegen Art 1, 20 GG und Art 19 Abs 4 GG, wenn diese Rechtsprechung nicht sowohl verfassungsrechtlich geboten als auch zulässig ist. Beides ist hier nicht der Fall (entgegen LSG Essen vom 18.4.2016 - L 6 AS 2249/15 B ua = SGb 2016, 397 und vom 21.4.2016 - L 6 AS 389/16 B ER).

 

Tenor

Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellern zu 1), 2) und 5) vorläufig für die Zeit vom 28.06.2016 bis zu einer bestandskräftigen bzw. rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, längstens bis zum 30.11.2016, Leistungen nach dem SGB II im gesetzlichen Umfang - mit Ausnahme der Leistungen für Bedarfe für Unterkunft und Heizung (§ 22 SGB II) - zu gewähren. Im Übrigen wird der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt.

Die Antragsgegnerin trägt die Hä...

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