Entscheidungsstichwort (Thema)

Pflegeversicherung. Pflegebedürftigkeits- und Begutachtungsrichtlinien. Feststellung der Pflegebedürftigkeit bei Kindern

 

Leitsatz (amtlich)

Die in den Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit nach dem SGB 11 (Begutachtungsrichtlinien) enthaltenen "Zeitabzugswerte für die Pflege gesunder Kinder" genügen nicht dem im SGB 11 vorgegebenen Rahmen und haben daher rechtlich keinen Bestand. Als Zitat aus einer Publikation des Kuratoriums für die Technik und das Bauwesen in der Landwirtschaft eV aus dem Jahr 1991 (Datensammlung für die Kalkulation der Kosten und des Arbeitszeitbedarfs im Haushalt, 4. Aufl 1991) beruhen sie weder auf einer zureichenden tatsächlichen Grundlage iS der empirischen Sozialforschung noch entsprechen sie den Maßstäben des Gesetzes für die Berücksichtigung bzw Nichtberücksichtigung elterlicher Hilfen unter Geltung des SGB 1.

2. Darüber hinaus berücksichtigt die Kammer ab dem 6. Lebensjahr eines Kindes einen konkreten hauswirtschaftlichen Mehraufwand auch insofern, als die ansonsten gemäß § 1619 BGB vorauszusetzende Hilfe des Kindes im elterlichen Haushalt fehlt bzw durch die konkret vorliegende Erkrankung medizinisch oder pflegerisch ausgeschlossen ist. Hierbei hält die Kammer sowohl für Mädchen als auch für Jungen eine zu erwartende kindliche Mithilfe von 10 Minuten im 6. Lebensjahr für zumutbar und legt eine angemessene Steigerung von jeweils 10 Minuten pro Lebensjahr bis auf 60 Minuten im Alter von 11 Jahren zugrunde.

3. Spätestens seit es zu Rückmeldungen aus dem Bereich der begutachtenden Medizinischen Dienste über Schwierigkeiten in der Umsetzung des Abschnittes über die Begutachtung von Kindern kam, bestand eine rechtliche Verpflichtung der Pflegekassen, die Richtlinien parallel zu dem Bereich der Zeitorientierungswerte über die Pflege Erwachsener - für den entsprechende Validierungsstudien bereits im Jahre 1998 vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung tatsächlich in Auftrag gegeben wurden - zu überprüfen und die hierauf beruhenden Verwaltungsentscheidungen zu korrigieren. Demgemäß liegt die materielle Beweislast für die Richtigkeit der in den Begutachtungsrichtlinien aufgeführten Werte spätestens seitdem bei den Pflegekassen.

 

Orientierungssatz

Bei den nach § 17 SGB 11 von den Spitzenverbänden der Pflegekassen beschlossenen und vom BMA genehmigten Begutachtungsrichtlinien handelt es sich der Rechtsqualität nach um Verwaltungsvorschriften. Als solche können sie für die gerichtliche Entscheidung nur soweit beachtlich sein wie sie entweder gesetzliche Vorgaben in rechtlich zulässiger Weise konkretisieren oder aber auf zutreffender rechtlicher Grundlage ermitteltes sachverständiges Wissen enthalten (vgl BSG vom 19.02.1998 - B 3 P 2/97 R = USK 9827 und BSG vom 19.2.1998 - B 3 P 7/97 R = SozR 3-3300 § 15 Nr 1). Diesen Anforderungen genügt der in den Begutachtungsrichtlinien enthaltene Abschnitt über die Begutachtung von Kindern nicht. Dies betrifft sowohl die Ausgestaltung des Begutachtungsverfahrens als auch die Abzugswerte für die Pflege gesunder Kinder sowie die Pauschalen für den hauswirtschaftlichen Mehraufwand.

 

Tatbestand

Der Rechtsstreit wird um Leistungen der sozialen Pflegeversicherung für ein geistig behindertes Kind geführt.

Die Klägerin kam ... 1986 mit einer angeborenen Chromosomenüberzahl -- Trisomie 21 -- zur Welt. Hiermit sind bei ihr vor allem eine erhebliche Denkleistungseinschränkung und eine Entwicklungsverzögerung verbunden. Ferner besteht eine Zuckerkrankheit des Typs Diabetes mellitus Typ I.

Aufgrund eines vor dem Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen geschlossenen Vergleichs erhielt die Klägerin von Juli 1993 bis Dezember 1994 Pflegegeld nach den §§ 53 ff. Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) alter Fassung. In Ziffer 3 dieses Vergleichs stimmten die Beteiligten darin überein, dass aus dieser Regelung kein Präjudiz für Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Elftes Buch (SGB XI) für die Zeit ab April 1995 hergeleitet werden könne.

Im Dezember 1994 beantragte die (ergänzend beihilfeberechtigte) Mutter der Klägerin bei der Beklagten als deren gesetzlicher Pflegekasse Geldleistungen bei häuslicher Pflege nach dem SGB XI.

Die Beklagte veranlasste eine Untersuchung durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK), die die beratende Ärztin Frau Dr. P im September 1995 durchführte. Diese schätzte den täglichen Pflegebedarf der Klägerin bei den Verrichtungen der Körperpflege, der Ernährung und der Mobilität auf 45 Minuten und ging in ihrem Gutachten zusammenfassend davon aus, die Hilfe, die ein gesundes 8jähriges Kind brauche, sei mindestens genauso groß, so dass die Klägerin keinen Mehrbedarf an Pflege habe. Pflegebedürftigkeit im Sinne des Pflegeversicherungsgesetzes liege nicht vor. Dieser Einschätzung folgend lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin durch Bescheid vom 31.10.1995 ab. Hiergegen erhob die Mutter der Klägerin Widerspruch, den sie im Wesentlichen mit einer Schild...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?