Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht. GdB-Feststellung. GdB von 100 für prälinguale Hörstörung. Gehörlosigkeit. Merkzeichen Gl. keine Entziehung bei Fehlen einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse. sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Berichtigung einer offenbaren Unrichtigkeit
Leitsatz (amtlich)
1. Bei einer Herabsetzung des Grades der Behinderung (GdB) im Falle einer prälingualen Hörstörung ist im Regelfall nach Teil B Ziffer 5.1 VersMedV von einem lebenslangen GdB von 100 auszugehen. Eine Ausnahme kann sich durch die Verbesserung der Sprachstörung ergeben. Maßgeblich kommt es insoweit auf den Besuch einer Regelschule an.
2. Die Voraussetzungen für das Merkzeichen "Gl" ergeben sich nicht aus Teil D VersMedV, sondern § 3 SchwbAwV iVm § 145 SGB 9. Gehörlos ist danach, wer taub oder gleichermaßen in der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist, das heißt dessen Hörbehinderung mit einem mindestens gleich hohen GdB einzustufen ist.
3. Bei der Entziehung des Merkzeichens "Gl" aufgrund einer wesentlichen Änderung im Sinne des § 48 Abs 1 SGB 10 kommt es entscheidend auf den Grad der Behinderung für die Hörstörung an.
4. Wird in einem Überprüfungsverfahren auf der Grundlage des § 48 SGB 10 im Verfügungssatz der falsche Vergleichsbescheid, der mangels Regelung keinen Verwaltungsakt nach § 31 SGB 10 darstellt, benannt, handelt es sich um eine offenbare Unrichtigkeit, die gemäß § 38 SGB 10 berichtigt werden kann.
Tenor
Der Bescheid vom 06.09.2010 in der Fassung des Abhilfebescheides vom 10.11.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.12.2010 wird aufgehoben, soweit der Grad der Behinderung von 100 herabgesetzt und das Merkzeichen Gl für Gehörlose entzogen wird.
Die Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu tragen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob beim Kläger über den 10.12.2010 hinaus ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 und die gesundheitlichen Merkmale für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs für Gehörlose (Merkzeichen “Gl„) vorliegen.
Der am 08.03.1990 geborene Kläger ist mit elf Jahren aus Mazedonien in die BRD eingereist. Er lebt seit der Einreise bei Pflegeeltern. Sprechen hat der Kläger erst in Deutschland gelernt, da er in seinem Heimatland - mangels einer hörprothetischen Versorgung - als taub galt. Beschult wurde der Kläger in Schwerhörigeneinrichtungen. Der angestrebte Hauptschulabschluss konnte allerdings nicht erreicht werden. Der Kläger befindet sich in geförderten Berufsvorbereitungsmaßnahmen.
Mit Bescheid vom 03.09.2002 stellte das damals zuständige Versorgungsamt Dortmund bei dem Kläger einen Grad der Behinderung von 100 sowie das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen “G„ (erheblich gehbehindert), “B„ (Begleitung), “H„ (hilflos), RF (Rundfunkbefreiung) und “Gl„ fest. Diesen Feststellungen lagen ein HNO-ärztliches Gutachten von XXX vom 29.10.2001, sowie eine versorgungsärztliche Stellungnahme von XXX zu Grunde. XXX beurteilte eine an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit beidseits mit einem damaligen völligen sprachlichen Unvermögen, die der Arzt mit einem GdB von 80 bewertete. Diese Einschätzung wurde von XXX zu einem GdB von 100 abgeändert. Zudem schlug er die anerkannten vor.
Nachdem dem Kläger im Jahr 2007 von der Vorgängerin der Beklagten die Merkzeichen “G„ und “B„ entzogen worden waren, initiierte die nunmehr zuständige Beklagte im Mai 2010 ein Überprüfungsverfahren. Nach dem Beiziehen von medizinischen Berichten kam der Allgemeinmediziner XXX in seiner versorgungsärztlichen Stellungnahme zu dem Ergebnis, dass bei dem Kläger eine angeborene Hörminderung mit Sprachstörung vorliege, die mit einem GdB von 60 einzuschätzen sei. Dem Kläger stünde zwar noch das Merkzeichen für eine Rundfunkbefreiung zu, aber nicht mehr die für Hilfebedürftige (“H„) und Gehörlose. Nach einer Anhörung setzte die Beklagte mit Bescheid vom 06.09.2010 den GdB auf 60 herab und stellte fest, dass die Voraussetzungen für die Merkzeichen “H„ und “Gl„ nicht mehr vorlägen.
Auf den eingelegten Widerspruch holte die Beklagte einen Befundbericht bei dem behandelnden HNO-Arzt XXX (Bochum) vom 14.10.2010 ein und legte ihn der Beratungsärztin XXX vor. Diese beurteilte, dass die an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit beidseits mit Sprachstörungen mit einem GdB von 80 einzuschätzen sei. Diese medizinische Stellungnahme umsetzend erließ die Beklagte den Abhilfebescheid vom 10.11.2010, mit dem sie die Herabsetzung des GdB auf 80 reduzierte. Mit Widerspruchsbescheid vom 10.12.2010 wies die Bezirksregierung Münster - als zuständige Widerspruchsbehörde - den Widerspruch im Übrigen zurück.
Am 11.01.2011 hat der Kläger Klage erhoben mit welcher er das Begehren aus dem Vorverfahren weiterverfolgt.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid vom 06.09.2010 in der Fassung des Abhilfebescheides vom 10.11.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.12.2010 aufzuheben soweit der Grad der Behinderung von 100 herabgesetzt und das Merkzeichen “G...