Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitsförderung. Zahlung von Pflichtbeiträgen bei Insolvenzereignis. Zweitinsolvenz nach Freigabe der selbstständigen Tätigkeit durch Insolvenzverwalter. keine Sperrwirkung. Insolvenzfähigkeit des freigegebenen Vermögens
Orientierungssatz
1. Gibt der Insolvenzverwalter in einem Insolvenzverfahren die vom Schuldner ausgeübte selbstständige Tätigkeit frei (§ 35 Abs 2 InsO) und wird dann später über das Vermögen aus der freigegebenen selbstständigen Tätigkeit das Insolvenzverfahren eröffnet (oder mangels Masse abgelehnt), liegt ein neues Insolvenzereignis vor, für das die Agentur für Arbeit gem § 208 SGB 3 aF die rückständigen Gesamtsozialversicherungsbeiträge zu zahlen hat.
2. Durch die Freigabe des Vermögens aus der selbstständigen Tätigkeit ist eine neue insolvenzfähige Vermögensmasse entstanden. Diese ist strikt von dem Insolvenzverfahren zu trennen, aus der die selbstständige Tätigkeit freigegeben wurde. Die neue insolvenzfähige Vermögensmasse dient den Neugläubigern (Gläubiger aus der freigegebenen selbstständigen Tätigkeit) als Haftungsmasse. Darin liegt auch der entscheidende Unterschied zu den bisherigen vom BSG entschiedenen Fällen. Dort betrafen sowohl das erste als auch das zweite Insolvenzereignis stets die gleichen Vermögensmassen.
3. Az beim LSG L 9 AL 1/13.
Tenor
Unter Aufhebung des Bescheides vom 12.05.2010 und des Bescheides vom 1.05.2010 wird die Beklagte verurteilt, der Klägerin Gesamtsozialversicherungsbeiträge für die Beigeladenen zu 2) und 3) für die Zeit vom 01.02.2010 bis 30.04.2010 in Höhe von 3.292,72 Euro zu zahlen.
Die Beklagte trägt die Kosten der Klägerin.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob in einem Insolvenzverfahren über das Vermögen des Schuldners, das durch den Insolvenzverwalter in einem ersten Insolvenzverfahren nach § 35 Abs. 2 InsO freigegeben wurde, Ansprüche auf Gesamtsozialversicherungsbeiträge für die Beigeladenen zu 2) und 3) für die Zeit vom 01.02.2010 bis 30.04.2010 durch die Klägerin als Einzugsstelle geltend gemacht werden können.
Über das Vermögen des Beigeladenen zu 1) wurde mit Beschluss des Amtsgerichts Siegen (Az.: 25 IN 300/05) vom 01.05.2006 das Insolvenzverfahren eröffnet. Mit Wirkung zum 01.05.2007 gab der Insolvenzverwalter den Geschäftsbetrieb des Beigeladenen zu 1) (im weiteren Schuldner genannt) mit Wirkung zum 01.05.2007 als Sondervermögen frei. Dieser Betrieb wurde durch den Schuldner in eigener Verantwortung fortgeführt. Wegen bestehender Beitragsrückstände im Sondervermögen stellte die Techniker-Krankenkasse am 08.03.2010 einen Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens.
Am 01.05.2010 wurde über diesen Betrieb vom Amtsgericht Siegen (Az.: 25 IN 76/10) das Insolvenzverfahren eröffnet. Ein Sachverständigengutachten vom 27.04.2010 hatte zuvor festgestellt, dass das Unternehmen sich im Jahre 2009 positiv entwickelt habe und letztlich in finanzielle Schwierigkeiten geriet, weil der Schuldner zu hohe Privatentnahmen tätigte. Das Einzelunternehmen habe im Jahr 2007 einen Gewinn von 7.477,47 Euro und im Jahr 2008 einen Verlust von 1.398,75 Euro erwirtschaftet. Im Jahr 2009 sei vorläufig ein Gewinn von 70.217,60 Euro erwirtschaftet worden. Zum Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung schuldete der Schuldner als Arbeitgeber Beiträge zur Gesamtsozialversicherung für die Zeit vom 09.11.2009 bis 30.04.2010 für zwei bei ihm beschäftigte und von der Klägerin versicherte Arbeitnehmer (Beigeladener zu 2) und 3)). Der Insolvenzverwalter zahlte für die Zeit der vorläufigen Insolvenz (24.03.2010 bis 30.04.2010) die Beträge an die Klägerin, da wegen der Nichtzahlung von Insolvenzgeld Löhne an die Arbeitnehmer aus der Masse gezahlt worden waren. Für die letzten drei Monate der Beschäftigungsverhältnisse vor Insolvenzeröffnung berechnete die Klägerin Pflichtbeträge nach § 208 SGB III in Höhe von 6.034,55 Euro.
Die Klägerin stellte am 12.05.2010 einen entsprechenden Antrag auf Zahlung von Pflichtbeträgen zur gesetzlichen Kranken-, Renten- und sozialen Pflegeversicherung sowie zur Arbeitsförderung und forderte rückständige Pflichtbeträge für den streitigen Zeitraum (01.02.2010 bis 30.04.2010) in Höhe von 6.034,55 € ein. Die Zahlungen des Insolvenzverwalters brachte sie in Abzug, so dass sich ein Erstattungsanspruch in Höhe von 3.292,72 Euro ergab.
Mit Bescheid vom 12.05.2010 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin mit der Begründung ab, es könne kein Insolvenzereignis im Sinne des § 183 SGB III in der hier noch anzuwendenden Fassung (a. F.) festgestellt werden. Gemäß § 183 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB III a. F. stelle die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Arbeitgebers ein Insolvenzereignis dar. Am 01.05.2010 sei ein Insolvenzverfahren über das Sondervermögen des Beigeladenen zu 1) eröffnet (25 IN 76/10) eröffnet worden. Über das Vermögen des Schuldners sei jedoch bereits im Jahre 2006 ein Insolvenzverfahren eröffnet (25 IN 300/05) worden. Dieses Verfahren sei weiterhin anhängig. Solange der Schuldner seine Zahlungsfähigk...