Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitslosengeld II. Übernahme der Kosten für die Wahrnehmung des Umgangsrechtes mit dem getrennt lebenden Kind. abweichende Erbringung bei unabweisbarem Bedarf. Notwendigkeit und Angemessenheit der Fahr- und Verpflegungskosten. keine vorrangige Bedarfsdeckung durch befristeten Zuschlag. Verzicht auf die Aufrechnung. analoge Anwendung der Öffnungsklausel des § 28 SGB 12. verfassungskonforme Auslegung
Orientierungssatz
1. Ein Bedarf im Zusammenhang mit der Ausübung des Umgangsrechts mit dem getrennt lebenden Kind unterfällt thematisch und strukturell am nahesten den "Beziehungen zur Umwelt" und damit den persönlichen sozialen Außenkontakten der Hilfebedürftigen. Er ist daher dem Grunde nach von den Regelleistungen nach § 20 Abs 1 S 1 SGB 2 umfasst.
2. Soweit die Regelleistungen für die zur Wahrnehmung des Umgangsrechts erforderlichen Kosten nicht ausreichen, muss eine zusätzliche Geldleistung nach § 23 Abs 1 S 1 SGB 2 erbracht werden, da insoweit eine Kostendeckelung aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht zulässig ist.
3. Die Übernahme der Kosten des Umgangsrechts beschränkt sich jedoch auf die notwendigen angemessenen Kosten. Das Kriterium der Angemessenheit der zu übernehmenden Kosten (hier Fahr- und Verpflegungskosten) ergibt sich dabei zum einen aus dem Tatbestandsmerkmal der Unabweisbarkeit des atypischen Bedarfs in § 23 Abs 1 S 1 SGB 2 und zum anderen aus dem Tatbestandsmerkmal des "vertretbaren Umfangs" der Beziehungen zur Umwelt in § 20 Abs 1 S 1 SGB 2. Die Umstände des jeweiligen Einzelfalles sind hinsichtlich des individuellen Kostenumfangs und damit der Angemessenheit der Kosten zur Ausübung des Umgangsrechts zu berücksichtigen. Dieses Erfordernis bezieht sich dabei sowohl auf die Höhe der Kosten, als auch auf das Maß des Umgangs. Um das erforderliche Maß des Umgangs festzustellen, sind alle das Eltern-Kind-Verhältnis bestimmenden Umstände zu würdigen. Als Umstände des Einzelfalles sind dabei in den Blick zu nehmen: Alter, Entwicklung und Zahl der Kinder, Intensität ihrer Bindung zum Umgangsberechtigten, Einstellung des anderen Elternteils zum Umgangsrecht, insbesondere Vorliegen und Inhalt einverständlicher Regelungen, Entfernung der jeweiligen Wohnorte beider Elternteile und Art der Verkehrsverbindungen.
4. Grundsicherungsrechtlich nach SGB 2 sind für Fahrkosten pro Entfernungskilometer jeweils 0,20 Euro zu Grunde zu legen (§ 3 Abs 1 Nr 3 Buchst b AlgIIV).
5. Für die Verköstigung und Freizeitgestaltung im Umgang mit den Kindern können zusätzliche Verpflegungskosten in Höhe von 5,00 Euro pro Kind und Besuchstag berücksichtigt werden.
6. Da § 23 Abs 1 S 1 SGB 2 ausdrücklich nur den Vermögensfreibetrag nach § 12 Abs 2 Nr 4 SGB 2 als vorrangig einzusetzen verpflichtet, sind andere von § 12 SGB 2 geschützte Vermögensbestandteile nicht zur Bedarfsdeckung einzusetzen. Dies legt nahe, dass auch geschütztes Einkommen im Rahmen der Prüfung nach § 23 Abs 1 S 1 SGB 2 nicht anzurechnen ist. Unter Berücksichtigung des Zwecks des befristeten Zuschlags nach § 24 SGB 2 ist dieser daher nicht vorrangig zur Deckung des unabweisbaren Bedarfs einzusetzen.
7. Der zusätzliche, unabweisbare, anderweitig nicht gedeckte Bedarf zur Ausübung des Umgangsrechts ist im Wege verfassungskonformer Auslegung der Rechtsfolge des § 23 Abs 1 S 1 SGB 2 nicht lediglich als Darlehen, sondern als Zuschuss in analoger Anwendung der Rechtsfolge des § 28 Abs 1 S 2 Alt 2 SGB 12 zu gewähren.
Tenor
I. Die Antragsgegnerin wird im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet, dem Antragsteller auf seinen Antrag vom 27. Januar 2006 vorläufig, ab Mai 2006 (zunächst befristet bis einschließlich Oktober 2006) monatliche, im Voraus zu erbringende Geldleistungen durch Übernahme der notwendigen Fahr- und Verpflegungskosten des Antragstellers zur Ausübung seines Umgangsrechts mit seinen beiden minderjährigen Töchtern S.M. und H.T. in Höhe von monatlich 137,00 € Zuschussweise (und nicht nur Darlehensweise) zu gewähren. Die Höhe des monatlichen Betrages steht unter dem Rückforderungsvorbehalt, dass dem Antragsteller tatsächliche, notwendige und angemessene Fahr- und Verpflegungskosten in Höhe von monatlich 137,00 € entstehen.
II. Dem Antragsteller wird auferlegt, der Antragsgegnerin monatlich nachträglich die tatsächlichen, notwendigen und angemessenen Fahr- und Verpflegungskosten nachzuweisen.
III. Die Antragsgegnerin erstattet dem Antragsteller dessen notwendige außergerichtliche Kosten.
Gründe
I. Die Beteiligten streiten im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes um die Übernahme von Kosten, die dem Antragsteller durch die Ausübung seines Umgangsrechts mit den von ihm getrennt, in L. lebenden, leiblichen Töchtern S.M. und H.T. entstehen.
Der 1973 geborene, in D. wohnhafte, seit ... 2004 von seiner früheren Ehefrau geschiedene Antragsteller ist Vater der 2000 geborenen Zwillinge S.M. und H.T., für die er sich gemeinsam mit seiner früheren Ehefrau das Sorgerecht teilt. Seine Töchter S.M. und H.T. halten sich bei ihrer lei...