Entscheidungsstichwort (Thema)
Vertragsärztliche Versorgung. Honorarrückforderung nach Plausibilitätsprüfung. Überschreitung der Quartalszeitfonds. Ansatz von Grund- und Mitbetreuungspauschalen ohne gesicherte Korrelation zum tatsächlichen Zeitaufwand. verfassungsrechtlicher Maßstab für die Eignung von Prüfzeiten. Erforderlichkeit transparent gewonnener und belastbarer empirischer Erkenntnisse
Leitsatz (amtlich)
1. Im Rahmen einer Plausibilitätsprüfung kann der Nachweis der Unrichtigkeit der vertragsärztlichen Abrechnung nicht allein an Hand der Quartalszeitprofile geführt werden, wenn zur Überschreitung der Quartalszeitfonds maßgeblich Ansätze für Grund- und Mitbetreuungspauschalen beigetragen haben, deren Prüfzeiten keine gesicherte Korrelation zum tatsächlichen Zeitaufwand für den obligaten Leistungsinhalt aufweisen.
2. Bei der Überprüfung der Eignung von Prüfzeiten als alleiniges Beweismittel zur Feststellung von Abrechnungsunrichtigkeiten ist von Verfassungs wegen ein strenger Maßstab anzulegen. Die Legitimation und Verlässlichkeit der Prüfzeiten muss sich nachprüfbar aus allgemein zugänglichen belastbaren empirischen Erkenntnissen oder Expertenwissen ergeben, die in einem transparenten Verfahren gewonnen worden sind.
Orientierungssatz
Az beim LSG Chemnitz: L 1 KA 14/22.
Tenor
I. Der Bescheid vom 14.07.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 08.06.2017 wird aufgehoben.
II. Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte.
III. Der Streitwert wird auf 211.934,37 EUR festgesetzt.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Rückforderung vertragsärztlichen Honorars in Höhe von 211.934,37 EUR für die Quartale 3/2012 bis 4/2014 aufgrund sachlich-rechnerischer Richtigstellung im Ergebnis einer Plausibilitätsprüfung.
Die Klägerin nimmt als Fachärztin für Neurologie sowie als Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie mit Praxissitz in L. Stadtteil N. an der vertragsärztlichen Versorgung teil. Wegen auffälliger Quartalszeitprofile veranlasste die beklagte Kassenärztliche Vereinigung eine Prüfung der in den Quartalen 3/2012 bis 4/2014 erbrachten Leistungen. Auf das Anhörungsschreiben der Beklagten vom 04.08.2015 verwies die Klägerin in ihrer Stellungnahme vom 22.10.2015 insbesondere auf ihre erheblich über dem Fachgruppendurch-schnitt liegenden Patientenzahl.
Mit Bescheid vom 14.07.2016 setzte die Beklagte gegenüber der Klägerin eine Honorarrückforderung in Höhe von insgesamt 211.934,37 EUR fest, und zwar
1.842,85 EUR für das Quartal 3/2012,
4.136,93 EUR für das Quartal 4/2012,
12.265,93 EUR für das Quartal 1/2013,
19.577,14 EUR für das Quartal 2/2013,
19.574,12 EUR für das Quartal 3/2013,
26.416,88 EUR für das Quartal 4/2013,
29.999,49 EUR für das Quartal 1/2014,
27.997,85 EUR für das Quartal 2/2014,
39.050,70 EUR für das Quartal 3/2014,
31.072,48 EUR für das Quartal 4/2014.
Die Überschreitung der Zeitfonds lasse die Richtigkeit der Abrechnung anzweifeln. Neben den Grundpauschalen, die bereits Gespräche bis 10 Minuten Dauer abgelten, habe die Klägerin häufig zusätzlich psychiatrische Gespräche nach GOP 21220 abgerechnet, die nochmals einen Arzt-Patienten-Kontakt von wenigstens 20 Minuten Dauer voraussetzen. Die abgerechnete Menge der Leistungen sei in der gegebenen Zeit nicht durchführbar. Mit Rücksicht auf die überdurchschnittliche Fallzahl habe der Ausschuss der Klägerin bereits einen Zuschlag auf den Quartalszeitfonds von 30 % (Anhebung auf 1.014 Stunden) gewährt. Entsprechend dem darüber hinaus gehenden Anteil des Quartalszeitprofils kürzte die Beklagte unter Anwendung der Mischpunktwertmethode das vertragsärztliche Honorar.
Mit dem am 12.08.2016 eingegangenen Widerspruch vom 10.08.2016 machte die Klägerin nochmals geltend, die hohen Quartalszeitprofile resultierten aus der hohen Patientenzahl mit zahlreichen Ansätzen der Zusatzpauschalen nach GOP 16230, 21230, 16231 und 21231 (kontinuierliche neurologische bzw. psychiatrische Mitbetreuung in der häuslichen und/oder familiären Umgebung bzw. in Heimen). Den diesen Leistungen als Prüfzeit beigemessenen Zeitbedarf nehme die Behandlung in der Regel nicht in Anspruch. Rechtswidrig sei die Berechnung der Honorarrückforderung aus dem bereits durch RLV/QZV begrenzten Honorar, obwohl die Zeitfondsüberschreitung an Hand des ungekürzten Leistungsbedarfs ermittelt werde. In Folge der dadurch bewirkten doppelten Kürzung verbleibe ihr letztlich nur ein Honorar, das noch unter dem Durchschnitt ihrer ärztlichen Fachgruppe (Nervenärzte, nicht: Neurologen) liege.
Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 08.06.2017, zugestellt am 15.07.2017, zurück. Bereits der Zeitbedarf für die abgerechneten Grundpauschalen, die psychiatrischen Gespräche (GOP 21220) und die Mitbetreuungsziffern (GOP 16230, 16231, 16233, 21230, 21231 und 21233) überschreite den Quartalszeitfonds. Die GOP für die Mitbetreuung setzten ein zeitaufwändiges Tätigwerden des Arztes voraus (Abstimmung mit Hausärzten, ärztliche Berichte, zusätzliche Befunderhebung, Behandlungsplanung, ggf. zwei Arzt-Patien...