Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. künstliche Befruchtung. Sachleistungsanspruch auf Kryokonservierung von Keimzellen bereits ab Inkrafttreten des § 27a Abs 4 SGB 5
Leitsatz (amtlich)
1. Versicherte, die die gesetzlichen Anspruchsvoraussetzungen erfüllten, hatten bereits ab dem Inkrafttreten des § 27a Abs 4 SGB V einen gesetzlichen Sachleistungsanspruch auf Kryokonservierung von Keimzellen bei krankheitsbedingter Gefährdung der Fertilität. Die Entstehung des Anspruchs hing weder von der Regelung der Einzelheiten zu Voraussetzungen, Art und Umfang der Maßnahmen gemäß § 27a Abs 5 SGB V durch den Gemeinsamen Bundesausschuss in einer Richtlinie nach § 92 SGB V ab, noch von der Umsetzung dieser Richtlinie im Einheitlichen Bewertungsmaßstab (juris: EBM-Ä 2008).
2. Die Entscheidung ist rechtskräftig.
Tenor
I. Der Bescheid vom 12.09.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.11.2019 wird aufgehoben.
II. Die Beklagte wird verurteilt, die Kosten für die Kryokonservierung (Transportkosten und Lagerung) - von Anfang an - dem Grunde nach zu übernehmen.
III. Die Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Kostenübernahme für eine Kryokonservierung. Hier handelte es sich um die Konservierung von Ovargewebe.
Im August 2019 wurde bei der versicherten Klägerin, Frau S., ein Mammakarzinom festgestellt. In diesem Zusammenhang stellte das Klinikum D. am 10.09.2019 für die Klägerin einen Antrag auf Kryokonservierung von Keimzellen. Geplant sei eine neoadjuvante Chemotherapie. Aufgrund des gonadotoxischen Risikos sei eine Maßnahme der Fertilitätserhaltung erforderlich.
Am 13.09.2019 wurde im Rahmen einer Laparoskopie Ovargewebe entnommen. Dieses wurde sodann zum Klinikum E., Abteilung für Gynäkologische Endokrinologie und Reproduktionsmedizin, transportiert und dort konserviert.
Bei der Kryokonservierung wird das entfernte Gewebe noch am gleichen Tag in eine spezielle Flüssigkeit (Medium) eingebracht, entwässert und anschließend nach einem speziellen und schonenden Verfahren in flüssigem Stickstoff eingefroren (Kryokonservierung).
Der Vertrag zur Lagerung des Gewebes mit dem Klinikum E. wurde am 12.09.2019 abgeschlossen. Dort konnte eine Lagerung jedoch nur für eine Jahr erfolgen. Aus diesem Grund schloss die Klägerin am 23.06.2020 den Fortführungsvertrag zur Lagerung mit der C. GmbH. Von dieser "Gewebeeinrichtung" wird nunmehr die weitere Konservierung vorgenommen.
Die Kosten der Entnahme wurden von der Beklagten im Rahmen der Krankenhausabrechnung übernommen. Daher macht die Klägerin nur die Versandkosten in Höhe von 430,30 €, die Lagerungskosten des Klinikums E. von 297,50 € sowie die künftigen Lagerungskosten der Firma C. GmbH in Höhe von jährlich 272,68 € geltend.
Mit Bescheid vom 12.09.2019 lehnte die Beklagte den Antrag auf Kostenübernahme ab. Die Beklagte übernehme Kosten für medizinisch notwendige Behandlungen, wenn diese zur Linderung von Krankheitsbeschwerden dienten oder die Verschlimmerung einer Krankheit verhindert werde. Die Kryokonservierung erfülle diese Voraussetzungen nicht, sondern sei in den Bereich der persönlichen Familien- und Lebensplanung einzuordnen.
Hiergegen legte die Klägerin am 26.09.2019 Widerspruch ein. Durch die geplante Chemotherapie bestehe ein sehr hohes Risiko, unfruchtbar zu werden. Aus diesem Umstand ergäbe sich für sie eine extrem hohe psychische Belastung, die zur Schwächung des Immunsystems führe und einer Genesung nicht zuträglich sei. In diesem Zusammenhang sei die Kryokonservierung wichtiger Bestandteil der Behandlung.
Durch Widerspruchsbescheid vom 13.11.2019 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Die Entnahme weiblicher Eizellen sowie ihre Kryokonservierung und Lagerung seien Maßnahmen zur Herbeiführung einer Schwangerschaft, die unmittelbar am Körper der Frau durchgeführt würden. Insoweit bestehe eine Leistungspflicht, wenn diese Maßnahmen im Rahmen einer künstlichen Befruchtung erforderlich würden und auch die übrigen, im Gesetz genannten Voraussetzungen erfüllt seien. Maßnahmen, die nicht im Hinblick auf einen konkret bevorstehenden Befruchtungsversuch erfolgten, sondern vorsorglich, um einen späteren Versuch der künstlichen Befruchtung erst zu ermöglichen, unterlägen nicht der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung.
Die Gewinnung sowie das Einfrieren und Lagern weiblicher Eizellen auf unbestimmte Zeit diene nicht der Wiederherstellung der Zeugungsfähigkeit, um auf natürlichem Wege eine Schwangerschaft herbeizuführen. Daher gehörten diese Maßnahmen nicht zur Krankenbehandlung i.S.d. Sozialgesetzbuches.
Eine künstliche Befruchtung sei nicht unmittelbar und konkret geplant. Die Gewinnung, einschließlich Einfrieren und Lagern weiblicher Eizellen erfolge vorsorglich, im Hinblick auf einen späteren Versuch der künstlichen Befruchtung. Daher scheide eine Kostenübernahme sowohl unter dem Gesichtspunkt der Krankenbehandlung als auch nach den Bestimmungen über die künstliche Bef...