Entscheidungsstichwort (Thema)
Wirtschaftlichkeitsprüfung in der vertragsärztlichen Versorgung. Regress wegen Überschreitung des Richtgrößenvolumens. Rückwirkung des Grundsatzes "Beratung vor Regress" für alle am Jahresende 2011 noch "offenen" Verfahren
Orientierungssatz
1. § 106 Abs 5e S 7 SGB 5 idF des Zweiten Gesetzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften vom 19.10.2012 (BGBl I 2012, 2192) ordnet unzweifelhaft an, dass alle am Jahresende 2011 noch "offenen" Verfahren der Richtgrößenprüfung dem Grundsatz "Beratung vor Regress" unterfallen; insoweit entfaltet die Regelung materiell-rechtlich Rückwirkung.
2. Unter "Verfahren" iS des § 106 Abs 5e S 7 SGB 5 ist das Verwaltungsverfahren vor den Prüfgremien und nicht ein sich daran anschließendes Gerichtsverfahren und hinsichtlich des Verwaltungsverfahrens auch das Verfahren vor dem Beschwerdeausschuss und nicht nur das vor der Prüfungsstelle zu verstehen (vgl LSG Stuttgart vom 19.2.2013 - L 5 KA 222/13 ER-B).
Nachgehend
Tenor
Der Bescheid des Beklagten vom 10. Mai 2012 wird mit der Maßgabe aufgehoben, dass dem Kläger eine individuelle Beratung gemäß § 106 Abs. 5e Satz 1 SGB V anzubieten ist.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Rechtmäßigkeit eines Regresses wegen Überschreitung der Arzneimittel-Richtgrößen im Jahre 2009.
Der Kläger ist als hausärztlich tätiger Facharzt für Innere Medizin in U zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen.
Mit Bescheid vom 16.11.2011 setzte die Prüfungsstelle der Ärzte und Krankenkassen Nordrhein für die Quartale 1/2009 bis 4/2009 wegen Überschreitung der Arzneimittel-Richtgrößen einen Regress in Höhe von 19.596,24 EUR fest. Diesem Bescheid widersprach der Kläger, da insbesondere Praxisbesonderheiten nicht hinreichend berücksichtigt worden seien. Solche lägen namentlich in dem gastroenterologischen Schwerpunkt seiner Praxis, in der Behandlung psychosomatischer Patienten, in der Behandlung von Patienten, die lipidsenkender Mittel bedürften und in der Betreuung von Patienten mit dem sog. "metabolischen Syndrom". Seine Patientenstruktur und sein Verordnungsverhalten seien seit Jahren unverändert. Für das Jahr 2006 habe der beklagte Beschwerdeausschuss diese Praxisbesonderheiten anerkannt und den Regress im Rahmen eins Vergleiches aufgehoben. Für das Jahr 2007 seien keine Maßnahmen beschlossen worden. Es sei sachgerecht, auch für das Jahr 2009 in entsprechender Weise zu verfahren.
Mit Bescheid vom 10.05.2012 wies der Beklagte den Widerspruch zurück.
Ausgehend von Arzneiverordnungskosten von 587.113,57 EUR zog er Verordnungskosten für Praxisbesonderheiten gemäß § 5 Abs. 3, 4 der Richtgrößenvereinbarung 2009, für Nichtarzneimittel sowie weitere nicht aufgeklärte Verordnungen in Höhe von insgesamt 45.661,07 EUR ab. Weitere Praxisbesonderheiten erkannte er nicht an. Bei verbliebenen Arzneikosten von 539.811,03 EUR ergab sich eine Abweichung gegenüber der Richtgrößensumme von 30,9 %. Den über eine 25 %-ige Überschreitung der Richtgrößensumme hinausgehenden Betrag regressierte der Beklagte, wobei er den Apothekenrabatt und die Patientenzuzahlungen durch Ansatz des günstigsten Nettokostenindexes von 80,59 % berücksichtigte. Es ergab sich damit ein Regressbetrag von netto 19.596,24 EUR.
Hiergegen richtet sich die am 21.05.2012 erhobene Klage.
Der Kläger wiederholt und vertieft sein Vorbringen aus dem Vorverfahren. Unter Bezugnahme auf eine Entscheidung des LSG Baden-Württemberg vom 19.02.2013 - L 5 KA 222/13 ER-B - ist er der Ansicht, dass für einen Regress vorliegend kein Raum sei, da er nach dem Grundsatz "Beratung vor Regress" zunächst hätte individuell beraten werden müssen. Dieser Grundsatz sei gesetzlich zum 01.01.2012 eingeführt worden; der Bescheid des Beklagten sei erst danach erteilt worden.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid des Beklagten vom 10. Mai 2012 aufzuheben und den Be- klagten zu verurteilen, über seinen Widerspruch gegen den Bescheid der Prüfungsstelle vom 16. November 2011 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er hält seinen Bescheid für rechtmäßig. Der Grundsatz "Beratung vor Regress" greife vorliegend bereits deshalb nicht, weil er nur bei einer "erstmaligen" Überschreitung des Richtgrößenvolumens um mehr als 25 % Anwendung finde. Bereits 2006 habe aber ein Prüfverfahren wegen Überschreitung der Arzneimittelrichtgrößen stattgefunden. Die vergleichsweise Beendigung jenes Verfahrens ändere nichts daran, dass es sich im Jahre 2009 nicht um eine erstmalige Überschreitung handele.
Die Beigeladenen stellen keine Prozessanträge.
Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen. Dieser ist Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist begründet. Der Kläger ist durch den angefocht...