Entscheidungsstichwort (Thema)

Schwerbehindertenrecht: Voraussetzung der Zuerkennung des Merkzeichens “aG„ bei einem Schwerbehinderten

 

Orientierungssatz

Bei Vorliegen einer hochgradigen Einschränkung der Bewegungsfähigkeit kommt eine Zuerkennung des Merkzeichens “aG„ zugunsten eines Schwerbehinderten auch dann in Betracht, wenn sich die zusätzlich zu fordernden besonderen Anstrengungen zur Fortbewegung nicht aus körperlichen Gründen ergeben, sondern aus für den Betroffenen notwendigen besonderen geistigen Anstrengungen (hier: Notwendigkeit der besonderen Konzentration zur willentlichen Steuerung der Motorik), wenn diese zusätzlich zur Einschränkung der Bewegungsfähigkeit zu einer erheblichen weiteren Einschränkung der Wegefähigkeit führen.

 

Tenor

Die Beklagte wird - unter Abänderung des Bescheides vom 29.07.2005 und des Widerspruchsbescheides vom 07.02.2006 - verurteilt, bei der Klägerin das Merkzeichen "aG" festzustellen. Die Beklagte trägt die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten in einem Verfahren nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch - SGB XII - um das Merkzeichen "außergewöhnlich gehbehindert" - aG -.

Die 1963 geborene Klägerin stellte im April 2005 beim Versorgungsamt E einen Folgeantrag nach dem SGB IX, mit dem sie die Zuerkennung eines höheren Grades der Behinderung und das Merkzeichen "aG" begehrte.

Das Versorgungsamt E holte daraufhin Befundberichte von den Ärzten der Klägerin ein und erteilte unter dem 29.07.2005 einen Bescheid, wonach die Behinderungen

1. Fehlstellung beider Füße nach Klumpfußoperationen, Bewegungsbehinderung in beiden Fußgelenken, (Einzel-GdB 50)

2. Implantation zweier neuer Herzklappen (Einzel-GdB 50)

3. Gehbehinderung nach Rückenmarkoperation (Einzel-GdB 50)

einen Gesamt-GdB von 90 bedingen. Außerdem wurde mit dem Bescheid festgestellt, dass die Klägerin weiterhin in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich eingeschränkt ist (Merkzeichen G) und dass die Klägerin bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel einer ständigen Begleitung bedarf (Merkzeichen B). Das von der Klägerin außerdem begehrte Merkzeichen "aG" wurde mit dem Bescheid versagt.

Hiergegen legte die Klägerin Widerspruch ein, mit dem sie auf ihr spastisch-attaktisches Gangbild verwies und mit dem sie behauptete, nur noch kurze Wegstrecken in langsamster Gangart zurücklegen zu können.

Obwohl der ärztliche Berater des Versorgungsamtes E auf den Widerspruch der Klägerin hin eine neurologische Untersuchung vorschlug, wies die Bezirksregierung Münster unter dem 07.02.2006 den Widerspruch als sachlich unbegründet zurück.

Hiergegen richtet sich die am 23.02.2006 bei Gericht eingegangene Klage, mit der die Klägerin weiterhin vorträgt, sie erfülle die Voraussetzungen für das Merkzeichen "aG".

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte unter Abänderung des Bescheides des Versorgungsamtes E vom 29.07.2005 und des Widerspruchsbescheides der Bezirksregierung Münster vom 07.02.2006 zu verurteilen, bei der Klägerin das Merkzeichen "aG" festzustellen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das Gericht hat zur Sachverhaltsermittlung ein Gutachten von dem Internisten P eingeholt. Auf Antrag der Klägerin hat das Gericht außerdem ein Gutachten von dem Arzt des Vertrauens der Klägerin, dem Neurologen und Psychiater Q eingeholt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zu den Gerichtsakten gereichten Schriftsätze der Beteiligten Bezug genommen. Ihre Inhalte waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

 

Entscheidungsgründe

Die form- und fristgerecht und daher zulässige Klage ist begründet. Die Klägerin ist durch die angefochtenen Bescheide beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -, denn die Bescheide erweisen sich als rechtswidrig. Die Klägerin hat Anspruch auf das begehrte Merkzeichen "aG".

Das Gericht verweist hinsichtlich der Rechtsgrundlagen, nach denen das Merkzeichen zu vergeben ist, auf die zutreffenden Ausführungen im angefochtenen Widerspruchsbescheid vom 07. Februar 2006.

Nach Maßgabe der dortigen Vorschriften liegen die Voraussetzungen für die Bewilligung des Merkzeichens "aG" vor.

Die Kammer folgert dies aus den Gutachten der gerichtlichen Sachverständigen.

Der Internist P hat festgestellt, dass die Klägerin in ihrer Gehfähigkeit in einem ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist. Die Klägerin kann sich nur noch mit Hilfe eines Gehstockes oder orthopädischen Schuhen und dann auch nur noch schleppend, kleinschrittig und deutlich verlangsamt fortbewegen. Letzteres ist darauf zurückzuführen, dass bei der Klägerin eine Kombination der Deformität der unteren Extremitäten in Verbindung mit einer ausgeprägten neurologischen Erkrankung besteht, mit der Folge, dass die Klägerin nur noch begrenzt in der Lage ist, die notwendige Abduktion der Beine beim Vorschwingen des Fußes im Rahmen der Gehbewegung durchzuführen. Durch die Unmöglichkeit dieser Bewegungskombination wirkt das Gangbild in besonderer Weise schlepp...

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