Entscheidungsstichwort (Thema)
jüdischer Verfolgter. Rentenversicherungspflichtiges Arbeits- und Beschäftigungsverhältnis im Ghetto Krenau. Ostoberschlesien. Zwangsarbeit. fiktive Beitragszeit. Ersatzzeit
Leitsatz (amtlich)
1. Die von der Rechtsprechung des BSG angewandte Rechtsfigur des offenen Typusbegriffs eines rentenversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses iS des § 14 Abs 2 S 1 WGSVG aF iV mit § 1226 Abs 1 Nr 1 RVO aF geht vom Normal- bzw Durchschnittsfall in einer rechtsstaatlich und demokratisch geprägten Rechtsordnung aus. Die für die Sozialversicherungspflicht von abhängig Beschäftigten entwickelten Begriffsmerkmale der Freiwilligkeit und Entgeltzahlung sind während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft mit ihrem beispiellosen, einzigartigen Zivilisationsbruch und ihrer zutiefst inhumanen, rechtsstaatsfeindlichen Rechts- und Rassenideologie hinsichtlich der von den jüdischen Verfolgten geleisteten Arbeiten nicht übertragbar. Die nationalsozialistische Diktatur zielte aufgrund ihrer rassenideologischen Verblendung gerade auf die Beseitigung dieser Kriterien.
2. Die aus rassenideologischen Gründen erlassene Verordnung über die Beschäftigung von Juden vom 3.10.1941 (RGBl I, S 675) ist wegen der schlechthin unerträglichen, extremen und durch Willkür gekennzeichneten offensichtlichen Verstöße gegen die Menschenwürde, die Menschenrechte, die Persönlichkeitsrechte, die elementaren Rechtsgrundsätze und die Grundprinzipien des Völkerrechts als von Anfang an als nichtig zu erachten und bei der Prüfung des Vorliegens eines rentenversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses iS des § 14 Abs 2 S 1 WGSVG aF in Verbindung mit § 1226 Abs 1 Nr 1 RVO aF nicht zu berücksichtigen.
3. Für das Bestehen eines rentenversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses iS des § 14 Abs 2 S 1 WGSVG aF iV mit § 1226 Abs 1 Nr 1 RVO aF ist bei den vom NS-Regime zur Arbeit gezwungenen jüdischen Verfolgten unter Zugrundelegung einer objektiven Betrachtungsweise zu prüfen, ob eine Tätigkeit verrichtet wurde, die in rechtsstaatlich geprägten Gesellschaften gewöhnlich von freien, bezahlten Arbeitskräften ausgeübt wird. Im Ergebnis ist dann das Zwangsarbeitsverhältnis hinsichtlich seiner rentenversicherungsrechtlichen Bewertung einem durch Vertrag begründeten Beschäftigungsverhältnis gleichzustellen. Die von den jüdischen Verfolgten in Ost-Oberschlesien geleisteten Arbeiten sind daher als glaubhaft gemachte (fiktive) Beitragszeiten anzuerkennen. Dieser in den historischen, politischen und sozialen Kontext der nationalsozialistischen Diktatur gestellte spezifisch wiedergutmachungsrechtliche Begriff des Beschäftigungsverhältnisses ist das Ergebnis einer verfassungskonformen, systematischen und funktionsdifferenten Auslegung des rechtlichen Umfeldes des § 14 Abs 2 S 1 WGSVG aF und einer zulässigen gesetzesübersteigenden Rechtsfortbildung, die den Inhalt der konkreten Rechtsnorm sachbezogen nach ihrer Stellung, Funktion und Aufgabe innerhalb des Rahmens der Gesamtrechtsordnung un der dieser zu Grunde liegenden leitenden Rechts- und Moralprinzipien bestimmt (Abweichung von den Urteilen des BSG vom 14.7.1999 - B 13 RJ 61/98 R, B 13 RJ 71/98 R und B 13 RJ 75/98 R, vom 21.4.1999 - B 5 RJ 46/98 R und B 5 RJ 48/98 R).
Orientierungssatz
1. Als Konsequenz der verfassungsrechtlichen Verpflichtung der Bindung an den allgemeinen Gleichheitssatz des Art 3 Abs 1 GG iV mit dem Sozialstaatsprinzip des Art 20 Abs 1 GG dürfen die jüdischen Verfolgten nicht schlechter gestellt werden als die dienst- bzw notdienstverpflichteten "reichsdeutschen Arbeitskräfte".
2. Für die Beschäftigung im Ghetto Krenau in der Zeit von April 1940 bis Januar 1942 sind Beiträge gemäß § 14 Abs 2 S 1 WGSVG aF zu fingieren, weil das Unterbleiben einer entsprechenden Beitragsentrichtung angesichts der damals gegen die jüdischen Verfolgten gerichteten Unrechtsmaßnahmen ohne weiteres als aus verfolgungsbedingten Gründen anzusehen ist.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt von der beklagten Landesversicherungsanstalt (LVA) Rheinprovinz die Gewährung von Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres nach § 1248 Abs 5 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Dabei geht es insbesondere um die Frage, ob die Arbeiten, die von der Klägerin im Ghetto K (C; O-O) geleistet worden sind, als Beitragszeiten anzuerkennen sind.
Die Klägerin wurde ... 1925 in A (Polen) als Tochter jüdischer Eltern geboren und besaß damals die polnische Staatsangehörigkeit. Von 1932 bis Sommer 1939 besuchte sie in A die Volksschule. Seit November 1939 hat sie den Judenstern tragen müssen. Anfang 1940 siedelte sie mit ihren Eltern in das Ghetto von K über. In K arbeitete sie von April 1940 bis Januar 1942 in der Limonaden- und Sodafabrik G. Im Januar 1942 wurde sie in das Zwangsarbeitslager (ZAL) H und anschließend in das Konzentrationslager (KL) G-R/Außenkommando (ZAL) O (Kreis T) deportiert. Nach ihrer Befreiung am 8. Mai 1945 kehrte die Klägerin für kurze Zeit nach Polen (K) zurück und wanderte i...