Entscheidungsstichwort (Thema)

Zwangsarbeit in Ghetto. rentenversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis

 

Leitsatz (amtlich)

1. Für die Prüfung der Tatbestandsmerkmale einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit iS von § 14 Abs 2 S 1 WGSVG aF (§ 12 WGSVG nF) ist auch bei den von jüdischen Verfolgten im Generalgouvernement verrichteten Arbeiten darauf abzustellen, ob die betreffende Arbeit nach den seinerzeit geltenden reichsgesetzlichen Vorschriften der Invalidenversicherung (§ 1226 Abs 1 Nr 1 RVO aF) versicherungspflichtig gewesen wäre.

2. Die von der Rechtsprechung des BSG angewandte Rechtsfigur des offenen Typusbegriffs eines rentenversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses iS des § 14 Abs 2 S 1 WGSVG aF iVm § 1226 Abs 1 Nr 1 RVO aF geht vom Normal- bzw Durchschnittsfall in einer rechtsstaatlich und demokratisch geprägten Rechtsordnung aus. Die für die Sozialversicherungspflicht von abhängig Beschäftigten entwickelten Begriffsmerkmale der Freiwilligkeit und Entgeltzahlung sind während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft mit ihrem beispiellosen, einzigartigen Zivilisationsbruch und ihrer zutiefst inhumanen, rechtsstaatsfeindlichen Rechts- und Rassenideologie hinsichtlich der von den jüdischen Verfolgten geleisteten Arbeiten nicht übertragbar. Die nationalsozialistische Diktatur zielte aufgrund ihrer rassenideologischen Verblendung gerade auf die Beseitigung dieser Kriterien.

3. Die aus rassenideologischen Gründen erlassene Verordnung über die Einführung des Arbeitszwangs für die jüdische Bevölkerung des Generalgouvernements vom 26.10.1939 ≪Verordnungsblatt des Generalgouverneurs für die besetzten polnischen Gebiete 1939, S 6≫ und die Zweite - Durchführungsvorschrift zur Verordnung vom 26.12.1939 über die Einführung des Arbeitszwangs für die jüdische Bevölkerung des Generalgouvernements (Erfassungsvorschrift) vom 12. Dezember 1939 ≪Verordnungsblatt des Generalgouverneurs für die besetzten polnischen Gebiete 1939, S 246≫ sind wegen der schlechthin unerträglichen, extremen und durch Willkür gekennzeichneten offensichtlichen Verstöße gegen die Menschenwürde, die Menschenrechte, die Persönlichkeitsrechte, die elementaren Rechtsgrundsätze und die Grundprinzipien des Völkerrechts als von Anfang an als nichtig zu erachten und bei der Prüfung des Vorliegens eines rentenversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses iS des § 14 Abs 2 S 1 WGSVG aF iVm § 1226 Abs 1 Nr 1 RVO aF nicht zu berücksichtigen.

4. Für das Bestehen eines rentenversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses iS des § 14 Abs 2 S 1 WGSVG aF iVm § 1226 Abs 1 Nr 1 RVO aF ist bei den vom NS-Regime zur Arbeit gezwungenen jüdischen Verfolgten unter Zugrundelegung einer objektiven Betrachtungsweise zu prüfen, ob eine Tätigkeit verrichtet wurde, die in rechtsstaatlich geprägten Gesellschaften gewöhnlich von freien, bezahlten Arbeitskräften ausgeübt wird. Im Ergebnis ist dann das Zwangsarbeitsverhältnis hinsichtlich seiner rentenversicherungsrechtlichen Bewertung einem durch Vertrag begründeten Beschäftigungsverhältnis gleichzustellen. Die von den jüdischen Verfolgten im Generalgouvernement geleisteten Arbeiten sind daher als glaubhaft gemachte (fiktive) Beitragszeiten anzuerkennen. Dieser in den historischen, politischen und sozialen Kontext der nationalsozialistischen Diktatur gestellte spezifisch wiedergutmachungsrechtliche Begriff des Beschäftigungsverhältnisses ist das Ergebnis einer verfassungskonformen, systematischen und funktionsdifferenten Auslegung des rechtlichen Umfeldes des § 14 Abs 2 S 1 WGSVG aF und einer zulässigen gesetzesübersteigenden Rechtsfortbildung, die den Inhalt der konkreten Rechtsnorm sachbezogen nach ihrer Stellung, Funktion und Aufgabe innerhalb des Rahmens der Gesamtrechtsordnung und der dieser zu Grunde liegenden leitenden Rechts- und Moralprinzipien bestimmt (Abweichung von den Urteilen des BSG vom 14.7.1999 - B 13 RJ 61/98 R = SozR 3-5070 § 14 Nr 2 -, B 13 RJ 71/98 R = SozR 3-5070 § 14 Nr 3 - und - B 13 RJ 75/98 R -, vom 21.4.1999 - B 5 RJ 46/98 R - und - B 5 RJ 48/98 R = SozR 3-2200 § 1248 Nr 16).

 

Orientierungssatz

Az beim LSG Essen: L 3 RJ 61/00.

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt von der beklagten Landesversicherungsanstalt (LVA) Rheinprovinz die Gewährung von Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres nach § 1248 Abs 5 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Dabei geht es insbesondere um die Frage, ob die Arbeiten, die von dem Kläger in P T (..., ...) geleistet worden sind, als Beitragszeiten anzuerkennen sind.

Der Kläger wurde ... 1920 in L (P) als Sohn jüdischer Eltern geboren und besaß damals die polnische Staatsangehörigkeit. In seinem Geburtsort besuchte er die Volksschule, deren Unterrichtssprache Polnisch war. Bei Beginn des Zweiten Weltkrieges lebte er in L. Seit November 1939 hat er den Judenstern tragen müssen. Im April 1940 kam er in das Ghetto P T. In diesem Ghetto war er von April 1940 bis Oktober 1942 als Bauarbeiter für die Stadtverwaltung (Ghettov...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge