Entscheidungsstichwort (Thema)
Ostarbeiter. Nachentrichtung von Pflichtbeiträgen für Zeiten vor dem 1.4.1944
Leitsatz (amtlich)
1. Die Regelungen, die einer Einbeziehung der Ostarbeiter in die gesetzliche Rentenversicherung für die Zeit vor dem 1.4.1944 entgegenstanden, beruhen erkennbar auf willkürlichen rassenideologischen Überlegungen und stellen offensichtlich ein spezifisch nationalsozialistisches Unrecht dar und müssen daher als nichtig angesehen werden.
2. Ostarbeitern steht deshalb in verfassungskonformer Auslegung der Regelung des § 1418 Abs 3 RVO bzw des § 197 Abs 3 S 1 SGB 6 ein Recht zur Nachentrichtung von Pflichtbeiträgen für die vor dem 1.4.1944 liegende Zeit ihrer Tätigkeit zu (Anschluss und Fortführung von BSG vom 23.5.1995 - 13 RJ 67/91 = SozR 3-2200 § 1251 Nr 7).
Orientierungssatz
1. Zur Definition des Begriffes "Ostarbeiter".
2. Als Konsequenz der verfassungsrechtlichen Verpflichtung der Bindung an den allgemeinen Gleichheitssatz des Art 3 Abs 1 GG iVm dem Sozialstaatsprinzip des Art 20 Abs 1 GG dürfen Ostarbeiter nicht schlechter gestellt werden als die dienst- bzw notdienstverpflichteten "reichsdeutschen Arbeitskräfte".
Nachgehend
Tatbestand
Die Klägerin begehrt von der beklagten Landesversicherungsanstalt (LVA) Rheinprovinz die Zulassung zur Nachentrichtung bzw. zur Zahlung von Pflichtbeiträgen für die Zeit vom 17. April 1942 bis zum 31. März 1944.
Die Klägerin wurde ... 1923 in S (Ukraine, ehemalige Sowjetunion) geboren. Ende März 1942 wurde sie in ihrem Geburtsort von der deutschen Arbeitsverwaltung aufgegriffen und in einem Sammeltransport nach B (Reichsgau Westfalen-Nord) gebracht. In B arbeitete die Klägerin ausweislich der Arbeitskarte für ausländische Arbeitskräfte und der Hebeliste für Ostarbeiter der Allgemeinen Ortskrankenkasse für den Kreis B (Westfalen) vom 17. April 1942 bis zum 15. September 1944 als Hilfsarbeiterin in der Rheinisch-Westfälischen Papiersackfabrik H. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges lebte sie vom 21. März 1946 bis zum 29. März 1949 im Lager für "Displaced Persons" (DP) S und wanderte anschließend nach Israel aus. Dort erwarb sie die israelische Staatsangehörigkeit.
Mit Bescheid vom 22. Oktober 1990 erkannte die Beklagte die Zeiten vom 1. April 1944 bis zum 15. September 1944 als Pflichtbeitragszeiten an. Die Anerkennung der Zeiten vom 17. April 1942 bis zum 31. März 1944 als Pflichtbeitragszeiten lehnte die Beklagte mit der Begründung ab, als Ostarbeiterin sei die Klägerin erst ab dem 1. April 1944 versicherungspflichtig gewesen.
Die Berücksichtigung der Zeiten vom 1. Juni 1941 bis zum 31. März 1942, vom 17. April 1942 bis zum 31. März 1944 und vom 16. September 1944 bis zum 23. April 1945 als verfolgungsbedingte Ersatzzeiten gemäß § 250 Absatz 1 Nr. 4 des Sechsten Buches des Sozialgesetzbuches -- Gesetzliche Rentenversicherung -- (SGB VI) lehnte die Beklagte mit der Begründung ab, die Voraussetzungen des § 1 des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) seien im Falle der Klägerin nicht erfüllt (Bescheide vom 6. Oktober 1993, 16. August 1995 und 27. Dezember 1995). Widerspruch, Klage, Berufung und Nichtzulassungsbeschwerde waren erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 23. August 1994, Urteil des Sozialgerichts (SG) Düsseldorf vom 8. September 1998 -- S 9 (14) RJ 170/94 --, Urteil des Landessozialgerichts (LSG) Nordrhein-Westfalen vom 26. Februar 1999 -- L 4 RJ 238/98 --, Beschluß des Bundessozialgerichts (BSG) vom 16. August 1999 -- B 13 RJ 81/99 B --).
Mit Bescheid vom 21. Juli 1998 bewilligte die Beklagte der Klägerin Regelaltersrente ab dem 1. Dezember 1996 in monatlicher Höhe von anfangs 34,95 DM.
Im November 1996 beantragte die Klägerin bei der Beklagten unter Hinweis auf das Urteil des BSG vom 23. Mai 1995 -- 13 RJ 67/91 -- SozR 3 -- 2200 § 1251 Nr. 7 (sog. Ostarbeiterentscheidung) die Zulassung zur Nachentrichtung bzw. zur Zahlung von Pflichtbeiträgen für die Zeit vom 17. April 1942 bis zum 31. März 1944.
Diesen Antrag auf Nachzahlung von Beiträgen nach § 197 Absatz 3 SGB VI (§ 1418 Absatz 3 der Reichsversicherungsordnung -- RVO --) lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 4. Februar 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. November 1998 ab. Zur Begründung führte sie aus: Für das von der Klägerin geltend gemachte Recht sei eine Rechtsgrundlage nicht vorhanden. § 197 Absatz 3 SGB VI bzw. § 1418 Absatz 3 RVO seien nicht anwendbar, da es sich um Härtefallregelungen handele. Ein Härtefall könne nur vorliegen, wenn u. a. der entsprechende Sachverhalt gesetzlich nicht geregelt sei und es sich lediglich um einen Einzelfall handele. Beides treffe auf die Klägerin nicht zu. Da für den Personenkreis der Ostarbeiter erst ab dem 1. April 1944 kraft Gesetzes Versicherungspflicht bestanden habe, sei eine Nachzahlung vor diesem Datum nicht möglich, da keine Versicherungspflicht bestanden habe und somit auch keine Beitragsentrichtung unterlassen werden konnte. Von einem Einzelfall könne ebenfalls nicht ausgegangen we...