Entscheidungsstichwort (Thema)

Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Arbeitnehmerbegriff. Beginn der Arbeitnehmereigenschaft. Empfänger von Dienstleistungen. Besuch eines Intensivsprachkurses. Sozialhilfe. Hilfe zum Lebensunterhalt. Leistungsausschluss für dem Grunde nach Leistungsberechtigte nach dem SGB 2. Kritik an der Rechtsprechung des BSG. Verfassungsmäßigkeit des Leistungsausschlusses. Selbsthilfemöglichkeiten

 

Orientierungssatz

1. Die Voraussetzungen des § 2 Abs 2 Nr 1 Alt 1 FreizügG/EU 2004 liegen nicht bereits ab Abschluss des Arbeitsvertrages vor, sondern erst ab tatsächlicher Aufnahme der Erwerbstätigkeit.

2. Als Dienstleistung iS des Art 57 AEUV können nur marktrelevante Tätigkeiten anerkannt werden, die wirtschaftlich geprägt sind, auf einen Erwerbszweck gerichtet sind und zeitlich beschränkt regelmäßig gegen ein Entgelt ausgeübt werden (vgl EuGH vom 4.10.1991 - C-159/90 = NJW 1993, 776 und vom 24.3.1994 - C-275/92 = NJW 1994, 2013). Für einen staatlich finanzierten Sprachkurs kann eine Dienstleistungseigenschaft iS des § 2 Abs 2 Nr 4 FreizügG/EU 2004 nicht bejaht werden.

3. § 21 S 1 SGB 12 setzt nicht voraus, dass der Person tatsächlich ein durchsetzbarer Leistungsanspruch nach dem SGB 2 zusteht. Im Hinblick auf die Gesetzesbegründung zu § 21 SGB 12 ist davon auszugehen, dass eine Berechtigung dem Grunde nach bereits dann gegeben sein soll, wenn eine Person aufgrund des Vorliegens von Erwerbsfähigkeit oder Angehörigenstatus dem Leistungssystem des SGB 2 zuzuordnen ist (vgl BT-Drs 15/1514, S 57).

4. Das BSG überschreitet allgemein anerkannte rechtsdogmatische Grenzen, wenn es entgegen dem objektiv erkennbaren gesetzlichen Regelungszweck des § 21 S 1 SGB 12 behauptet, dass erwerbsfähige Personen und ihre Angehörigen, die nach § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 von Leistungen nach dem SGB 2 ausgeschlossen sind, nicht auch von Leistungen nach dem Dritten Kapitel des SGB 12 ausgeschlossen seien.

5. Der Gesetzgeber hat mit dem Leistungsausschluss für EU-Ausländer, die ihr Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ableiten, in verfassungskonformer Weise einen Nachrang des deutschen Sozialleistungssystems gegenüber den Leistungssystemen des jeweiligen Herkunftslandes normiert.

6. Im Fall ausländischer Personen - insbesondere aus Mitgliedstaaten der Europäischen Union - besteht neben der Obliegenheit zum vorrangigen Einsatz eigener Erwerbsfähigkeit, Einkommen und Vermögen eine zumutbare, besondere Selbsthilfemöglichkeit in Form der Rückreise in ihr Heimatland.

 

Tenor

Die Beklagte wird unter entsprechender Abänderung des Bescheides vom 09.02.2015 und des Widerspruchsbescheides vom 07.09.2015 verurteilt, dem Kläger für den 31.08.2015 Leistungen in Höhe von 25,47 EUR zu gewähren. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Klägers sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über eine Verpflichtung der Beklagten Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch [SGB II] bzw. der Beigeladenen Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch [SGB XII] zu erbringen.

Der am 16.12.1991 geborene Kläger ist polnischer Staatsbürger. Er hält sich seit dem 01.09.2013 in der Bundesrepublik Deutschland auf. Vom 01.10.2013 bis zum 28.02.2014 hatte der Kläger bei der Firma P. Motorenzerlegung GmbH in E. eine Beschäftigung ausgeübt, welche zum 28.02.2014 innerhalb der Probezeit durch den Arbeitgeber gekündigt worden war. Im Anschluss hieran bezog der Kläger vom 01.03.2014 bis zum 28.02.2015 Leistungen nach dem SGB II von der Beklagten. Weitere Geld- oder Sachzuwendungen erhält der Kläger nicht, der auch nicht über sonstiges Einkommen oder Vermögen im In- oder Ausland verfügt.

Mit einem Weiterbewilligungsantrag, der am 05.02.2015 bei der Beklagten einging, beantragte der Kläger die Fortzahlung von Leistungen nach dem SGB II für den Zeitraum ab März 2015.

Der Weiterbewilligungsantrag wurde seitens der Beklagten mit Bescheid vom 09.02.2015 abgelehnt. Zur Begründung gab die Beklagte an, dass die Voraussetzungen eines Leistungsanspruchs nicht vorliegen würden, da der Kläger über ein alleiniges Aufenthaltsrecht zur Arbeitssuche verfüge. Die Entscheidung beruhe auf § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II.

Gegen den Ablehnungsbescheid erhob der Kläger am 23.02.2015 Widerspruch. Der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II würde nur einen Leistungsausschluss bis zum 26.09.2014 begründen. Der Leistungsausschluss sei im Übrigen auf freizügigkeitsberechtigte EU-Bürger nicht anwendbar.

Der Kläger besuchte ab Dezember 2014 einen Intensivsprachkurs, bei dem er die Abschlussprüfung am 11.09.2015 erfolgreich bestand. Die Finanzierung des Intensivsprachkurses erfolgte über das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge.

Ausweislich eines am 28.08.2015 unterschriebenen Arbeitsvertrages nahm der Kläger am 31.08.2015 eine Beschäftigung bei der T. Dienstleistungsgesellschaft mbH auf. Der Arbeitsvertrag sieht eine Beschäftigung von wöchentlich 25 Stunden zu eine...

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