Entscheidungsstichwort (Thema)

Schwerbehindertenrecht. Entziehung der Schwerbehinderteneigenschaft. GdB-Herabsetzungsbescheid nach Heilungsbewährung. Versorgungsmedizinische Grundsätze. Totalentfernung des Magens. Polyneuropathie nach Chemotherapie. Anforderungen an die Bestimmtheit des Bescheids. kein konkret benanntes Datum der Herabsetzung. Geltung "ab Bekanntgabe". Auslegung. Bekanntgabefiktion des § 37 Abs 2 SGB 10. "Ab-Vermerk" bei Aufgabe zur Post. sozialrechtliches Verwaltungsverfahren

 

Orientierungssatz

1. Ein Bescheid über die Herabsetzung eines Grads der Behinderung (GdB) kann durch Auslegung iS des § 33 Abs 1 SGB 10 hinreichend bestimmt werden, auch wenn er den Zeitpunkt des Geltungsbeginns nur mit der Formel "ab Bekanntgabe" angibt (so auch LSG Berlin-Brandenburg vom 13.8.2019 - L 11 SB 156/18; entgegen LSG Berlin-Potsdam vom 11.11.2021 - L 13 SB 280/19).

2. Der Bestimmtheit steht es nicht entgegen, wenn der Empfänger des Herabsetzungsbescheids den Tag des Zugangs nicht mehr konkret nachvollziehen oder erinnern kann, wenn feststeht, dass ihm der Bescheid zugegangen ist.

3. Voraussetzung für die Bekanntgabefiktion des § 37 Abs 2 S 1 SGB 10 ist, dass die Aufgabe zur Post in den Behördenakten durch einen so genannten "Ab-Vermerk" in den Behördenakten dokumentiert ist (vgl BSG vom 28.11.2006 - B 2 U 33/05 R = BSGE 97, 279 = SozR 4-2700 § 136 Nr 2).

4. Zur GdB-Herabsetzung und Entziehung der Schwerbehinderteneigenschaft nach Heilungsbewährung unter Neufeststellung eines GdB nach den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (VMG) - ua für Totalentfernung des Magens (Teil B Nr 10.2.1 VMG) und Polyneuropathie (Teil B Nr 3.11 VMG).

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 15.06.2023; Aktenzeichen B 9 SB 2/22 R)

 

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.

3. Die Sprungrevision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die 1967 geborene Klägerin begehrt die Aufhebung eines Bescheides, mit dem der Beklagte den bei ihr festgestellten Grad der Behinderung (GdB) nach Ablauf der Heilungsbewährung für eine Krebserkrankung von 80 auf 40 herabgesetzt hat.

Sie ist als Lehrerin mit einem reduzierten Stundenumfang berufstätig.

Im April 2011 wurde bei ihr eine Krebserkrankung im Bereich des Magens diagnostiziert. Im Mai 2011 begann sie eine Chemotherapie, im August 2011 wurden der Magen einschließlich der zugehörigen Lymphknoten sowie ein Teil der unteren Speiseröhre operativ entfernt.

Am 2. September 2011 beantragte die Klägerin bei dem Beklagten die Durchführung eines Verfahrens zur Feststellung von Behinderungen und des GdB nach dem Neunten Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX). Mit Bescheid vom 9. September 2011 stellte der Beklagte bei ihr ab Antragstellung einen GdB von 80 fest, wobei er eine Nachprüfung nach Ablauf einer fünfjährigen Heilungsbewährung im August 2016 ankündigte.

Im Oktober 2014 wurde bei der Klägerin nach einem Darmverschluss ein weiterer operativer Eingriff mit einer Teilresektion des Dünndarms durchgeführt. Im Anschluss daran unterzog sich die Klägerin im Dezember 2014 einer Rehabilitationsbehandlung.

Im August 2016 leitete der Beklagte das Verwaltungsverfahren zur Nachprüfung der Gesundheitsstörungen der Klägerin ein und holte eine ärztliche Auskunft der behandelnden Praktischen Ärztin Dr. U ein. Mit Schreiben vom 6. Dezember 2016 hörte er die Klägerin zur beabsichtigten Herabsetzung des GdB auf 40 wegen der verbliebenen Funktionsstörungen, und zwar dem Verlust des Magens und Funktionsstörungen des Darms, an. Er verwies darauf, dass im Rahmen der fünfjährigen Heilungsbewährung kein Rückfall aufgetreten sei. Die noch bestehenden Gesundheitsstörungen seien mit einem GdB von 40 angemessen bewertet, wobei bei der Beurteilung ein reduzierter Kräfte- und Ernährungszustand berücksichtigt worden sei. Die Klägerin reagierte auf das Anhörungsschreiben nicht. Im April 2017 holte der Beklagte zusätzlich eine ärztliche Auskunft von Dr. G der H Kliniken B ein.

Mit Neufeststellungsbescheid vom 23. Juni 2017 hob er seinen Bescheid vom 9. September 2011 teilweise auf und setzte den GdB der Klägerin auf 40 herab. Im Text des Neufeststellungsbescheides heißt es unter anderem wörtlich:

„Sehr geehrte Frau W,

von Amts wegen ergeht folgende Entscheidung:

Ihr Grad der Behinderung beträgt 40.

Sie gehören zum Personenkreis der behinderten Menschen.

Ein Schwerbehindertenausweis steht Ihnen nicht zu.

Diese Entscheidung ist wirksam ab Bekanntgabe dieses Bescheides.

Der Bescheid vom 09.09.2011 wird entsprechend aufgehoben.

Folgende Gesundheitsstörungen wurden berücksichtigt:

- Verlust des Magens

- Funktionsstörungen des Darms

Die Gesundheitsstörung Gewebeneubildung des Magens nach Ablauf der Heilungsbewährung kann nicht in die Bewertung des GdB einbezogen werden, weil sie für sich allein keinen Einzel-GdB von wenigstens 10 bedingt.

Der GdB wird für diese Gesundheitsstörung jetzt nur noch von dem verbliebenen Organ- oder Gliedmaßenschaden bzw. von der verbliebenen Leistungsbeeinträchtigung bestimmt.“

Der Neufeststellungsbescheid is...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge