Entscheidungsstichwort (Thema)
Keine Verwirkung des Klagerechts für eine sozialgerichtliche Untätigkeitsklage allein durch langen Zeitablauf. Berücksichtigung der Klageerhebung ohne "Vorwarnung" der Behörde nach jahrelangem Schweigen des Klägers aber im Rahmen der Kostenentscheidung nach § 193 Abs. 1 Satz 3 SGG unter dem Gesichtspunkt der Verursachung eines unnötigen Klageverfahrens
Leitsatz (amtlich)
1. Die Erhebung einer sozialgerichtlichen Untätigkeitsklage nach § 88 SGG kann wegen Verwirkung des Klagerechts rechtsmissbräuchlich und damit unzulässig sein, auch wenn der geltend gemachte Anspruch in der Sache besteht.
2. Im sozialgerichtlichen Verfahren sind auf die Verwirkung des Klagerechts die für die verwaltungsgerichtliche Untätigkeitsklage nach § 75 VwGO entwickelten Grundsätze entsprechend anzuwenden.
3. Es reicht auch im Rahmen der sozialgerichtlichen Untätigkeitsklage nach § 88 SGG ein bloßer erheblicher Zeitablauf [hier: Klageerhebung 2 Jahre und 11 Monate nach der letzten Korrespondenz] nicht für die Verwirkung des Klagerechts aus. Es müssen vielmehr im Einzelfall besondere Umstände hinzutreten, die die späte Klageerhebung als widersprüchliches Verhalten des Klägers erscheinen lassen, und die Behörde musste im Vertrauen auf den Nichtgebrauch des Klagerechts entsprechende Dispositionen treffen, die es als unzumutbar erscheinen lassen, das als abgeschlossen betrachtete Verwaltungsverfahren wieder aufzunehmen und zum Abschluss zu bringen.
4. Es kann im Rahmen einer Kostenentscheidung nach § 193 Abs. 1 Satz 3 SGG aber zu Lasten des Klägers berücksichtigt werden, dass er durch eine Klageerhebung nach jahrelangem "Schweigen" ohne Vorwarnung der Behörde ein unnötiges, vermeidbares Klageverfahren verursacht hat, etwa wenn die Untätigkeit der Behörde auf einem Irrtum ihrerseits beruhte und sie das Verfahren bereits für abgeschlossen hielt.
Tenor
Die Beklagte hat der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten für das Klageverfahren S 21 AS 577/11 dem Grunde nach zur Hälfte zu erstatten.
Gründe
I.
Die Klägerin erhielt am 21.10.2007 von der Beklagten eine Zahlungsaufforderung bezüglich einer Forderung der Arbeitsgemeinschaft F. nach § 50 SGB X. Die Beklagte war von der Arbeitsgemeinschaft F. mit der Einziehung dieser Forderung beauftragt worden. Da es sich um eine wiederholte Zahlungsaufforderung handelte, berechnete die Beklagte zusätzlich eine Mahngebühr in Höhe von 0,90 €. Die Klägerin legte dagegen am 14.12.2007 durch ihren Bevollmächtigten Widerspruch ein. Dem Widerspruch wurde mit Bescheid vom 28.1.2008 abgeholfen. Der Bevollmächtigte der Klägerin übersandte der Beklagten daraufhin am 31.1.2008 eine Kostennote und bat um Kostengrundentscheidung nach § 63 SGB X. Mit Schriftsatz vom 7.3.2008 erinnerte der Bevollmächtigte der Klägerin an den Erlass dieser Kostengrundentscheidung. In der Folgezeit fand in dieser Sache keine Korrespondenz zwischen den Beteiligten mehr statt.
Am 3.2.2011 erhob die Klägerin Untätigkeitsklage gegen die Beklagte. Die Beklagte erließ daraufhin am 14.4.2011 einen Widerspruchsbescheid, der eine Kostengrundentscheidung nach § 63 SGB X enthielt. Die Klägerin erklärte daraufhin ihre Klage in der Hauptsache für erledigt.
Vorliegend beantragt die Klägerin,
der Beklagten die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin für die Untätigkeitsklage aufzuerlegen.
Die Beklagte beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Die Beklagte trägt vor, sie sei zwar untätig im Sinne des § 88 SGG gewesen. Die Untätigkeitsklage sei dennoch unzulässig gewesen, da sie rechtsmissbräuchlich erhoben worden sei. Nach über drei Jahren, in denen die Klägerin die noch ausstehende Entscheidung nicht mehr angemahnt habe, habe die Beklagte nicht mehr mit einer Untätigkeitsklage rechnen müssen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Vortrag der Beteiligten im Kostenverfahren sowie auf die Gerichtsakte des Hauptsacheverfahrens und auf die zum Verfahren beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.
II.
Nach § 193 Abs. 1 Satz 3 SGG hat das Gericht auf Antrag durch Beschluss über den Umfang der Kostenerstattung zu entscheiden, wenn das Verfahren anders als durch Urteil beendet wird. In einem solchen Fall sind nach billigem Ermessen der bisherige Sach- und Streitstand und die Erfolgsaussichten des anhängig gewesenen Verfahrens zu berücksichtigen. Auch die Gründe für die Klageerhebung und für die Erledigung des Rechtsstreits sind zu berücksichtigen. Hierbei ist insbesondere auch von Bedeutung, ob der Rechtsstreit überhaupt erforderlich war, oder ob er bei sachgemäßem Verhalten der Beteiligten hätte vermieden werden können.
Diesen Grundsätzen entsprechend hat die Klägerin einen Anspruch gegen die Beklagte auf Erstattung ihrer notwendigen außergerichtlichen Kosten dem Grunde nach zur Hälfte.
Zunächst ist festzuhalten, dass die Untätigkeitsklage zulässig und begründet war, also Erfolg gehabt hätte, wenn das Gericht zum Zeitpunkt ihrer anderweitigen Erledigung durch Urteil über sie hätte entscheiden müssen.
Die Klage war -...