Entscheidungsstichwort (Thema)
Asylbewerberleistung. Analogleistung. Leistungen in Höhe der Regelbedarfsstufe 2 bei Unterbringung in einer Gemeinschaftsunterkunft. Anwendbarkeit der Übergangsregelung des § 15 AsylbLG. verfassungskonforme Auslegung
Leitsatz (amtlich)
Die Übergangsvorschrift § 15 AsylbLG ist verfassungskonform so auszulegen, dass hiervon alle seit dem 21.8.2019 in Kraft getretenen Änderungen des § 2 AsylbLG umfasst werden. Der Anwendungsbereich ist insbesondere nicht auf die Verlängerung der Wartefrist durch das Zweite Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht (juris: AusrPflDG 2) beschränkt, sondern betrifft auch die Änderungen des Regelsatzsystems durch das Dritte Gesetz zur Änderung des AsylbLG (juris: AsylbLGÄndG 3).
Tenor
1. Der Bescheid der Beklagten vom 9.3.2020 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 17.3.2020 wird aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, ihren Bescheid vom 17.9.2019 für die Zeit vom 1.10.2019 bis 31.12.2019 dahingehend abzuändern, dass als Bedarf der Klägerin die Regelbedarfsstufe 1 berücksichtigt wird.
2. Der Bescheid der Beklagten vom 13.2.2020 in der Fassung des Wider-spruchsbescheids vom 17.3.2020 wird abgeändert und die Beklagte verurteilt, der Klägerin vom 1.1.2020 an Leistungen nach § 2 AsylbLG ausgehend von der Regelbedarfsstufe 1 zu gewähren.
3. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Höhe von Asylbewerberleistungen.
Die am 1990 geborene alleinstehende Klägerin ist eritreische Staatsangehörige. Sie bezieht von der Beklagten seit 1.2.2017 Analogleistungen nach § 2 des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG), ebenso wie ihre 2018 geborene Tochter. Beide leben gemeinsam in einem Zimmer in einer Gemeinschaftsunterkunft für Asylbewerber in F. Die Beklagte hatte ihnen die Asylbewerberleistungen zuletzt vor den hier streitgegenständlichen Bescheiden mit Bewilligungsbescheid vom 30.11.2018 für die Zeit ab 1.1.2019 bis auf weiteres in Höhe von insgesamt 1163,16 € bewilligt. Dem lag die Berücksichtigung der Regelbedarfsstufe 1 in Höhe von 424 € monatlich für die Klägerin zugrunde. Aufgrund des zum 1.9.2019 in Kraft getretenen § 2 Abs. 1 S. 4 Nr. 1 AsylbLG bewilligte die Beklagte der Klägerin und ihrer Tochter mit bindend gewordenem Änderungsbescheid vom 17.9.2019 ab 1.10.2019 Leistungen in Höhe von 1121,16 € monatlich, ausgehend von Regelbedarfsstufe 2 für die Klägerin. Mit weiterem Änderungsbescheid vom 13.2.2020 wurden die Leistungen ab 1.1.2020 bis auf weiteres in Höhe von 1136,04 € monatlich bewilligt, wiederum ausgehend von der Regelbedarfsstufe 2 für die Klägerin.
Mit Schreiben vom 7.11.2019 und erneut mit Schreiben ihres Bevollmächtigten vom 21.1.2020 beantragte die Klägerin die Überprüfung des Bescheids vom 17.9.2019. Mit weiterem Schreiben ihres Bevollmächtigten vom 25.2.2020 erhob die Klägerin Widerspruch gegen den Bescheid vom 13.2.2020. Die Klägerin beantragte jeweils die Bewilligung von Leistungen nach der Regelbedarfsstufe 1. Zur Begründung brachte sie vor, entgegen dem Grundgedanken der gesetzlichen Neuregelung wirtschafte sie in der Gemeinschaftsunterkunft nicht mit anderen Bewohnern wie in einem Paarhaushalt, so dass keine Einspareffekte erzielt würden. Ihre unmittelbaren Zimmernachbarn würden aus Serbien stammen. Allein aus sprachlichen Gründen sei daher nur eine oberflächliche Kommunikation möglich. Sie wirtschafte alleine, mit den Mitbewohnern gehe sie weder zusammen einkaufen, noch würden sie zusammen kochen oder ihre Freizeit miteinander verbringen. Ihr Bevollmächtigter machte darüber hinaus geltend, dass § 2 Abs. 1 S. 4 Nr. 1 AsylbLG evident verfassungswidrig sei, da die Regelung gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums und den allgemeinen Gleichheitssatz verstoße.
Mit Bescheid vom 9.3.2020 lehnte die Beklagte den Überprüfungsantrag hinsichtlich des Bescheides vom 17.9.2019 ab, wogegen die Klägerin mit Schreiben ihres Bevollmächtigten vom 11.3.2020 ebenfalls Widerspruch erhob.
Mit Widerspruchsbescheid vom 17.3.2020 wies die Beklagte die Widersprüche gegen den Bescheid vom 13.2.2020 und gegen den Bescheid vom 9.3.2020 als unbegründet zurück. Sie führte aus, § 2 Abs. 1 S. 4 Nr. 1 AsylbLG sehe ab 1.9.2019 vor, dass bei der Unterbringung in einer Gemeinschaftsunterkunft für jede erwachsene Person ein Regelbedarf in Höhe der Regelbedarfsstufe 2 anerkannt werde. Die Beklagte sei nicht befugt, diese Norm nicht anzuwenden. Der Gesetzgeber habe die Neuregelung für erforderlich gehalten, da das Regelbedarfsermittlungsgesetz (RBEG) keine spezielle Regelbedarfsstufe für Personen in Sammelunterkünften vorsehe, mit der Unterbringung in einer solchen Sammelunterkunft aber typischerweise Einspareffekte verbunden seien, weil durch die gemeinsame Nutzung von bestimmten Räumlichkeiten (Küche, Sanitär- und Aufenthaltsräume etc.) die Möglichkeit zu einem Wirtschaften aus einem Topf bestehe. Die getroffene Regelung liege im Entscheidungsspiel...