Entscheidungsstichwort (Thema)
Soziale Pflegeversicherung. Pflegedienst. Versorgungsvertrag. außerordentliche Kündigung. gröbliche Pflichtverletzung. Schädigung von Pflegebedürftigen und Abrechnung nicht erbrachter Leistungen. Prüfung der Zumutbarkeit der Vertragsfortsetzung. Gesamtschau. Prognose. Ermessen
Leitsatz (amtlich)
1. Bei gröblichen Pflichtverletzungen im Sinne des § 74 Abs 2 SGB XI - hier im Wesentlichen: Schädigung von Pflegebedürftigen infolge der Pflichtverletzung und Abrechnung nicht erbrachter Leistungen - ist in der Gesamtschau zu bewerten, ob die Fortsetzung des Versorgungsvertrages den Pflegekassen zumutbar ist.
2. Erforderlich dafür ist die Prognose, ob der Pflegedienst aufgrund des Gewichts, der Dauer und der Intensität der Pflichtverletzung nicht mehr die Gewähr für eine zuverlässige, vertrags- und gesetzeskonforme Versorgung der Pflegebedürftigen bietet. Lässt die Haltung des Pflegedienstes keine Bereitschaft erkennen, die den Pflegekassen Anlass zu der Erwartung geben könnte, bei entsprechenden Anstrengungen könne der Pflegedienst wieder die gesetzlichen und vertraglichen Anforderungen erfüllen, sind mildere Mittel als die außerordentliche Kündigung nicht ersichtlich.
Orientierungssatz
1. Der Umstand, dass Pflichtverletzungen nicht nur Pflegeleistungen nach dem SGB 11, sondern auch nach dem SGB 5 betreffen, ist für die Begründung der vorliegenden außerordentlichen Kündigung ohne Belang. Maßgeblich ist, dass der Pflegedienst Pflegeleistungen in beiden Bereichen anbietet und somit für die sorgfältige Ausführung aller angebotenen Leistungen Gewähr übernimmt.
2. Liegen die Voraussetzungen für eine fristlose Kündigung vor, kann diese von den Landesverbänden der Pflegekassen ausgesprochen werden. Es handelt sich um einen Fall des intendierten Ermessens, bei dem das Gesetz ein bestimmtes Ergebnis nahelegt, sodass dann, wenn die Behörde diesen Regelfall durchsetzen will, es keiner Abwägung von Ermessensgesichtspunkten und deshalb auch keiner näheren Begründung bedarf. Bei gröblichen Pflichtverletzungen, die ein Festhalten am Versorgungsvertrag, wie vorliegend, unzumutbar erscheinen lassen, wird daher nur in Ausnahmefällen eine Ermessensausübung dazu führen können, dass von dem gesetzlich intendierten Regelfall abgesehen werden kann.
Tenor
1. Der Antrag der Antragstellerin vom 19. April 2021 wird abgelehnt.
2. Die Antragstellerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Gründe
I.
Im Streit steht in dem einstweiligen Rechtsschutzverfahren, ob die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage der Antragstellerin vom 17. März 2021 gegen den Bescheid der Antragsgegnerinnen vom 1. März 2021, mit welchem die Antragsgegnerinnen den Versorgungsvertrag mit der Antragstellerin gemäß § 72 des Elften Buchs des Sozialgesetzbuchs - Soziale Pflegeversicherung - (SGB XI) gekündigt haben, anzuordnen ist.
Die Antragstellerin betreibt unter der Geschäftsbezeichnung „ L. Pflegedienst A., A-Straße, A-Stadt“ (infolge: LPD) einen Pflegedienst in der Form eines Einzelunternehmens. Sie schloss im Jahr 1995 mit den Antragsgegnerinnen zu 1. bis 7. (infolge: Antragsgegnerinnen) einen Versorgungsvertrag nach § 72 SGB XI (häusliche Pflegehilfe) ab. Der Pflegedienst hatte das Institutionskennzeichen IK ... (§ 293 nach dem Fünften Buch des Sozialgesetzbuchs - Gesetzliche Krankenversicherung - (SGB V ≪SGB V≫). Weiterhin schloss sie im Jahr 2004 auf der Grundlage eines Rahmenvertrags mit den Antragsgegnerinnen Versorgungsverträge nach §§ 132, 132a SGB V über die einheitliche Versorgung mit häuslicher Krankenpflege und Haushaltshilfe im Saarland, beginnend zum 1. August 2004. Der Pflegedienst war unter der genannten Bezeichnung jedenfalls bis Ende 2019 tätig.
Am 6. November 2019 wandte sich die Antragstellerin an die Antragsgegnerin zu 1) und teilte mit, dass sie zum Jahreswechsel ihren Pflegedienst in eine GmbH & Co KG umwandeln werde. Sie wolle ihren Bestandsschutz nicht aufgeben.
Am 30. Dezember 2019 wurden ein Vertrag über die Gründung der L. Gesundheitsdienst D. A. GmbH sowie ein Vertrag über die Gründung der L. Pflegedienst A. GmbH & Co KG (nachfolgend: GmbH & Co KG) abgeschlossen. Die GmbH und die GmbH & Co KG wurden am 12. März und 7. April 2020 in das Handelsregister des Amtsgerichts C-Stadt eingetragen (HRB 106251 und HRA 12708). Die Bundesagentur für Arbeit (BA) erteilte die Betriebsnummer 5.... Die Antragstellerin meldete ein Gewerbe für die Betriebsstätte ...Straße, A-Stadt am See, mit Beginn am 1. Januar 2020 an. Das Finanzamt C-Stadt teilte eine Steuernummer für die GmbH & Co KG zu. Die Arbeitsgemeinschaft für Institutionskennzeichen (ARGE-IK) vergab das Institutionskennzeichen (IK ...).
Die Antragstellerin legte am 6. Januar 2020 über ihre damaligen Bevollmächtigten bei der Antragsgegnerin zu 2) eine Ausfertigung des Vertrags zur Gründung der GmbH & Co KG vor; alleinige Gesellschafterin der GmbH und alleinige Kommanditistin der GmbH & Co KG ist die Antragstellerin.
Am 8. Januar 2020 teilte die Antragstellerin mit, sie habe zu...