Entscheidungsstichwort (Thema)

Gewaltopferentschädigung. sexueller Missbruch als Kind. dissoziative Identitätsstörung. Beweiserleichterung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Sexueller Missbrauch in der Kindheit kann zu dissoziativen Störungen bzw. posttraumatischen Syndromen führen. Dies ergibt sich u.a. aus Nr 71 der "Anhaltspunkte".

2. Bereits die Diagnose einer dissoziativen Identitätsstörung stellt nach dem Stand der medizinischen Erkenntnisse ein gewichtiges Indiz für Gewalterfahrungen im frühen Kindesalter dar.

3. Das Krankheitsbild der dissoziativen Identitätsstörung kann eine Einschränkung der Beweismittel und Explorationsmöglichkeiten mit sich bringen.

4. Bei Vorliegen einer dissoziativen Identitätsstörung können unvollständige und so genannte verzögerte Erinnerungen häufig angetroffen werden, ohne dass eine solche Verzögerung als Indiz für fehlende Glaubwürdigkeit angesehen werden kann. Eine Anwendung des § 15 KOVVfG ist hierdurch nicht ausgeschlossen.

 

Tenor

Der Bescheid vom 06.01.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.08.2003 und der Bescheid vom 14.02.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.03.2006 werden aufgehoben und der Beklagte verpflichtet, den Bescheid vom 07.12.2005 aufzuheben, die dissoziative Identitätsstörung mit posttraumatischer Belastungsstörung als Schädigungsfolge nach dem OEG anzuerkennen und die Klägerin dafür nach einer MdE von 80 v. H. seit Juli 2001 zu entschädigen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Der Beklagte trägt die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Versorgungsleistungen nach dem Gesetz über die Entschädigung von Opfern von Gewalttaten (Opferentschädigungsgesetz - OEG) aufgrund sexuellen Missbrauchs und schwerer Gewalterfahrungen in der Kindheit.

Die 1972 geborene Klägerin stellte am 25.07.2001 einen Antrag auf Entschädigung nach dem OEG. Sie begründete ihren Antrag damit, von verschiedenen Tätern aus der Familie und dem Bekanntenkreis der Mutter seit der Geburt bis zum 28. April 1982 nahezu täglich körperlich misshandelt worden zu sein. Sie habe Prügel mit dem Ledergürtel, Hundeleinen, dem Waschmaschinenschlauch, mit Fäusten und Tritten bekommen. Ihr Kopf sei auf den Fußboden oder gegen die Wand geschlagen worden. Zudem sei sie regelmäßig sexuell (vaginal, oral, anal) unter Gewaltanwendung und Drohung missbraucht worden. Schließlich habe sie unter regelmäßigem Nahrungs-, Flüssigkeits- und Schlafentzug gelitten. Eine Strafanzeige sei nie erstattet worden, da dies als Kind nicht möglich gewesen sei und durch die Verdrängung des Erlebten die Erinnerungen erst sehr spät wieder zum Vorschein gekommen seien. Die Klägerin berichtete auch über den Antrag hinaus immer wieder von intensiver körperlicher Gewalt, auch sexueller Art seit ihrem 3. Lebensjahr.

Sie wuchs als drittes von sieben Kindern in einem Elternhaus auf, das körperlicher Gewalt sowie Vernachlässigung geprägt war. Sie war seit dem frühesten Kindesalter verhaltensauffällig (Lügen, Stehlen, Zerstörung von Gegenständen, Nägelkauen) und wurde von ihrem leiblichen Vater körperlich misshandelt. Als Ursache für die Verhaltensauffälligkeiten sah die Familienbetreuerin die Kompensation mangelnder Zuwendung an. Diese hielt die Problematik für so tiefgreifend, dass schon im Alter von 9 Jahren aus ihrer Sicht eine therapeutische Behandlung unabdingbar war. Das zuständige Jugendamt, das die Familie seit 1981 betreute, bestätige körperliche Gewalt durch den leiblichen Vater, den Stiefvater sowie ihren drei Jahre älteren Bruder RX.. Über derartige Taten existieren entsprechende polizeiliche Vermerke. Auch der Familienbetreuerin sowie der Lehrerin der Klägerin waren Verletzungen im Gesicht, blaue Flecken und Kratzwunden aufgefallen. Nach Angaben der Lehrerin äußerte sich die mangelnde Versorgung der Klägerin zudem darin, dass sie anderen Kindern ihre Frühstücksbrote wegnahm, um sie selber zu essen. Ein Kriminalkommissar beschrieb die häuslichen Verhältnisse als unbeschreiblich dreckig und verwahrlost. Die Familienbetreuerin bestätigte erhebliche Defizite im Bereich der Hygiene und Körperpflege. Bei ihrer eigenen Vernehmung gab die Klägerin im April 1982 im Alter von 9 Jahren an, von ihrem leiblichen Vater immer geschlagen worden zu sein und von ihrem älteren Bruder RX. täglich mit der Faust oder sonstigen Gegenständen geschlagen zu werden. Die Angaben erschienen dem zuständigen Kriminalkommissar glaubhaft und wurden vom Bruder RX. auch in einer Vernehmung bestätigt.

Bereits 1975 war ein erst vier Monate alter Säugling der Mutter in der Familie an Verwahrlosung gestorben und die Mutter dafür wegen fahrlässiger Tötung zu drei Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt. Der Mutter wurde daraufhin das Sorgerecht für die Klägerin entzogen. Vier der sechs Geschwister der Klägerin hatten andere Väter. Beide leiblichen Elternteile waren alkoholabhängig und ließen sich scheiden, als die Klägerin 5 Jahre alt war. Im Alter von neun Jahren...

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