Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorläufiges Rechtsschutzverfahren bei lebensbedrohlichen Erkrankungen. zulassungsüberschreitende Anwendung eines Arzneimittels ≪sog Off-Label-Use≫ bei Krebserkrankung. Wirksamkeit und Nutzen der adjuvanten Therapie mit Herceptin
Orientierungssatz
1. Besteht die Gefahr, dass der Versicherte ohne die Gewährung der umstrittenen Leistung vor Beendigung des Hauptsacheverfahrens stirbt, oder er schwere oder irrevisible gesundheitliche Beeinträchtigungen erleidet, ist ihm die begehrte Leistung regelmäßig zu gewähren, wenn das Gericht nicht auf Grund eindeutiger Erkenntnisse davon überzeugt ist, dass die begehrte Leistung unwirksam oder medizinisch nicht indiziert ist oder ihr Einsatz mit dem Risiko behaftet ist, die abzuwendende Gefahr durch die Nebenwirkungen der Behandlung auf andere Weise zu verwirklichen. Besteht die Beeinträchtigung des Versicherten dagegen im Wesentlichen nur darin, dass er die begehrte Leistung zu einem späteren Zeitpunkt erhält, ohne dass sie dadurch für ihn grundsätzlich an Wert verliert, weil die Beeinträchtigung der in Art 2 Abs 2 S 2 GG genannten Rechtsgüter durch eine spätere Leistungsgewährung beseitigt werden kann, dürfen die Sozialgerichte die begehrte Leistung im Rahmen der Folgenabwägung ablehnen.
2. Eine zulassungsüberschreitende Anwendung (sog Off-Label-Use) mit dem Arzneimittel "Herceptin" liegt vor, wenn eine arzneimittelrechtliche Zulassung nur für die Behandlung von Patientinnen, die mindestens zwei Chemotherapien gegen ihr metastasierendes Mammakarzinom erhalten haben und für die eine Chemotherapie mit Anthrazyklin ungeeignet ist oder zur Behandlung von Patientinnen, die noch keine Chemotherapie erhalten haben in Kombination mit Paclitaxel oder Docetaxel und für die ebenfalls eine Chemotherapie mit Anthrazyklin ungeeignet ist, besteht.
3. Abschließende wissenschaftliche Daten über die Wirksamkeit und den Nutzen der adjuvanten Therapie mit Herceptin sind noch nicht veröffentlicht, jedoch deuten die bisher vorliegenden Zwischenergebnisse darauf hin, dass bei einer adjuvanten Therapie mit Herceptin sowohl die Rezidivrate als auch das Mortalitätsrisiko deutlich geringer sind als bei bisherigen adjuvanten Chemotherapien.
Tatbestand
Die Antragstellerin begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die vorläufige Übernahme der Kosten für eine Therapie mit dem Medikament Herceptin®.
Die 1951 geborene Antragstellerin ist bei der der Antragsgegnerin krankenversichert. Sie erkrankte an einem rechtsseitigen Mammakarzinom und unterzog sich einer partiellen (brusterhaltenden) Exzision der Mamma mit axillärer Lymphadenektomie am 01.04.2005. Die histologische Untersuchung ergab ein 2,3 cm im Durchmesser großes, niedrig differenziertes, ductal invasives Mammakarzinom rechts mit DCIS high grade-Anteil und einem minimalem Abstand des Karzinoms von der pectoralen Faszie von 2 mm und Lymphangiosis carcinomatosa. Das postoperative Stadium betrug p T2 (is) N3 G3 L1, Östrogen- und Progesteronrezeptor- negativ, HER2 neu 3 positiv. Metastasen in zehn von zehn entfernten axillären Lymphknoten, zum Teil mit Kapseldurchbruch, waren feststellbar.
Wegen des massiven Lymphknotenbefalls wurde die Antragstellerin als Hochrisikopatientin eingestuft. Postoperativ wurden bei der Antragstellerin in der Zeit vom 15.04.2005 bis 03.08.2005 6 Zyklen einer Chemotherapie nach dem TAC-Schema (Docetaxel, Adriamycin, Cyclophosphamid) und in der Zeit vom 16.08.2005 bis 27.09.2005 eine Strahlentherapie mit 30 Bestrahlungen durchgeführt.
Am 02.08.2005 beantragte die Antragstellerin durch den behandelnden Arzt S., JE. AG., die Übernahme der Kosten einer adjuvanten Therapie mit Trastuzumab (Herceptin®, Hersteller: Fa. JG.) unter Verweis auf Ergebnisse der internationalen HERA Studie und der beiden amerikanischen Studien NSABP-B31 und NCCTG-N9831 zur adjuvanten Trastuzumabtherapie HER2-positiver Patientinnen mit Mammakarzinom, die eine deutliche Reduktion des Rezidivrisikos sowie eine signifikante Reduktion des Risikos für eine Fernmetastasierung durch die Herceptin® Behandlung zeigen würden.
Der Wirkstoff Trastuzumab (Herceptin®) ist ein Antikörper, der gezielt für das Anheften an den sog. HER-2-Rezeptor hergestellt wird. An diesen Rezeptor, der auf manchen Brustkrebszellen sehr viel häufiger als auf normalen Zellen vorkommt, “dockt" der Antikörper an. Damit blockiert er die Aufnahme von Wachstumsfaktoren, die die Krebszelle zu gesteigerter Stoffwechselaktivität und zur Teilung anregen.
Das Medikament Herceptin® ist in Deutschland als Monotherapie zugelassen zur Behandlung von Patientinnen, die mindestens zwei Chemotherapien gegen ihr metastasierendes Mammakarzinom erhalten haben und für die eine Chemotherapie mit Anthrazyklin ungeeignet ist oder zur Behandlung von Patientinnen, die noch keine Chemotherapie erhalten haben, in Kombination mit Paclitaxel oder Docetaxel und für die ebenfalls eine Chemotherapie mit Anthrazyklin ungeeignet ist.
Für eine adjuvante Therapie des Mammakarzinoms im Frühstadium...