Entscheidungsstichwort (Thema)

Festsetzung des maßgeblichen billigen Jahresarbeitsverdienstes bei der Gewährung von Versichertenrente

 

Orientierungssatz

1. Ist ein festgesetzter Jahresarbeitsverdienst in erheblichem Maß unbillig, so wird er gemäß § 87 SGB 7 nach billigem Ermessen im Rahmen von Mindest- und Höchstjahresarbeitsverdienst festgesetzt.

2. Hierbei ist außer den Fähigkeiten, der Ausbildung und der Lebensstellung des Verletzten seine Erwerbstätigkeit zur Zeit des Arbeitsunfalls zu berücksichtigen.

3. Hat ein Chemiker unmittelbar nach Abschluss des Diplomstudiums mit der Promotion begonnen und war er noch nicht in das Erwerbsleben eingetreten, so ist es unbillig, davon auszugehen, dass der Verdienst aus einer halben Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter auf Dauer gesehen die Einkunftssituation der Familie wiedergeben würde.

4. Besondere Gründe, welche vorübergehend zu einem niedrigeren Verdienst führen, dürfen sich nicht über die gesamte Rentenlaufzeit nachteilig auswirken.

5. Das Kriterium der Unbilligkeit ist u. a. erfüllt, wenn bei der Ermittlung des zugrundezulegenden Jahresarbeitsverdienstes lediglich von einer Teilzeitbeschäftigung anstelle einer Vollzeittätigkeit ausgegangen wird.

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 26.04.2016; Aktenzeichen B 2 U 14/14 R)

 

Tenor

1. Der Bescheid der Beklagten vom 26.02.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.11.2008 wird aufgehoben und die Beklagte verurteilt, unter Zurücknahme des Bescheides vom 23.08.1984 die Verletztenrente des Kläger ab 01. Januar 2000 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu berechnen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

2. Die Beklagte hat 1/2 der notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers in gesetzlichem Umfang zu erstatten.

 

Tatbestand

Im Streit steht die Neufeststellung des für die Rentenberechnung maßgeblichen Jahresarbeitsverdienstes (JAV) im Wege eines Überprüfungsantrages nach § 44 SGB X.

Der 1954 geborene Kläger verunfallte auf dem Weg zu seiner versicherten Tätigkeit als wissenschaftliche Hilfskraft an der Universität C., Fachbereich Chemie, am 20.09.1983, wobei er eine komplette Querschnittslähmung ab TH 4 mit den entsprechenden Ausfällen erlitt. Ab 11.06.1984 ist eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 100 v. H. festgestellt.

Seit 15.07.1981 war der Kläger als "wissenschaftliche Hilfskraft mit Abschluss" an der Universität C. im Fachbereich Chemie mit 92 Stunden im Monat zu einem Jahreseinkommen von 21.126,58 DM brutto zuzüglich 1.902,83 DM Weihnachtsgeld (= 1/2 A-13-Stelle) beschäftigt. Das vorangegangene Studium der Chemie hatte er als Diplomchemiker abgeschlossen, er war verheiratet und hatte drei Kinder. Nach Auskunft des Arbeitgebers vom 05.12.1983 unterfiel die Tätigkeit nicht dem BAT, es handelte sich um ein Sonderforschungsprojekt, die über die 92 Stunden hinausgehende Arbeitszeit stand dem Kläger laut Schreiben des Prof. Dr. D. vom 28.11.1983 zur Arbeit an seiner Doktorarbeit zur Verfügung. Ausweislich einer Bescheinigung vom 14.12.1983 war das Arbeitsverhältnis befristet bis 31.12.1983, wurde jedoch im Hinblick auf den Unfall bis Juli 1985 verlängert, so dass der Kläger seine Promotion zum Abschluss bringen konnte. Laut Schreiben des Arbeitgebers vom 24.02.1984 bestand nie die Möglichkeit einer Dauerbeschäftigung dort.

Der weitere berufliche Werdegang des Klägers gestaltete sich derart, dass er zunächst eine befristete Arbeitsstelle als promovierter Diplomchemiker am Institut für Strahlenhygiene bei der Außenstelle des Bundesgesundheitsamtes in E. innehatte, von dort am 01.01.1989 eine Versetzung an die Dienststelle des Institutes für Wasser-, Boden- und Lufthygiene in F. erfolgte, und er seit 01.06.2002 dort einen Telearbeitsplatz innehat.

Durch Bescheid vom 23.08.1984 gewährte die Beklagte dem Kläger Verletztenrente ab 11.06.1984 aufgrund einer MdE von 100 v. H., ausgehend von einem Jahresarbeitsverdienst von DM 23.029,41 bzw. DM 23.331,09.

Mit Schreiben vom 10.01.1986 beantragte der Kläger die Neuberechnung der Unfallrente nach § 573 Abs. 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) mit der Begründung, seine Promotion sei als berufliche Qualifikation für einen Chemiker unerlässlich gewesen, so dass sich der Unfall vor endgültigem Abschluss der Berufsausbildung ereignet habe, weshalb die Höhe der Verletztenrente neu zu berechnen sei. Mit Schreiben vom 23.01.1986 teilte die Beklagte mit, dass die Ausbildung des Klägers zum Zeitpunkt des Unfalles bereits beendet gewesen sei, so dass eine Berechnung lediglich nach § 571 RVO erfolgen könne.

Im September 1997 erfolgte erneut eine interne Überprüfung bei der Beklagten hinsichtlich der Berechnung des JAV im Hinblick darauf, ob nach Promotion eine Neufeststellung des JAV hätte erfolgen müssen. Dies wurde verneint, da nach höchstrichterlicher Rechtsprechung die Promotion nicht mehr als Berufsausbildung gelte.

Im Telefonat vom 08.12.2004 beantragte der Kläger erneut die Überprüfung des JAV und vertrat die Auffassung, dieser sei auf der Grundlage einer vollschicht...

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