Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende bzw Sozialhilfe. Leistungsausschluss für Ausländer bei Ableitung eines Aufenthaltsrechts aus Art 10 EUV 492/2011. Europarechtskonformität. Verfassungsmäßigkeit
Leitsatz (amtlich)
1. Die gesetzliche Neuregelung der Leistungsausschlüsse nach §§ 7 Abs 1 S 2 Nr 2 Buchst c SGB II , 23 Abs 3 S 1 Nr 3 SGB XII in der seit dem 29.12.2016 geltenden Fassung begegnet keinen europarechtlichen Bedenken. Die Leistungsausschlüsse verstoßen hinsichtlich der Unionsbürger eines anderen Mitgliedsstaates, die ein Aufenthaltsrecht nach Art 10 VO 492/2011 (juris: EUV 492/2011 ) haben, denen aber kein solches nach der RL 2004/38/EG (juris: EGRL 38/2004 ) zusteht, nicht gegen das Diskriminierungsverbot des Art 4 VO 883/2004 (juris: EGV 883/2004 ; so im Ergebnis auch LSG Celle-Bremen vom 26.5.2017 - L 15 AS 62/17 B ER = juris RdNr 10, 22; entgegen LSG Essen vom 21.8.2017 - L 19 AS 1577/17 B ER ua = juris RdNr 29 und LSG Halle (Saale) vom 6.9.2017 - L 2 AS 567/17 B ER = juris RdNr 42).
2. Der Rechtsprechung des EuGH ist mit hinreichender Deutlichkeit zu entnehmen, dass der Gerichtshof die Geltung des Diskriminierungsverbotes an ein Aufenthaltsrecht nach der Freizügigkeitsrichtlinie knüpft und andere Aufenthaltsrechte für eine Gleichbehandlung bei existenzsichernden Leistungen für nicht maßgebend ansieht.
3. Bei der Auslegung des Gemeinschaftsrechts ist den Bestimmungen des Unionsrechts ihre volle praktische Wirksamkeit zu verschaffen, wobei Lösungen praktischer Konkordanz in Bezug auf Normen zu suchen sind, deren Anwendung die Wirksamkeit oder die Kohärenz der Unionsregelungen in Frage stellen könnten (vgl EuGH vom 10.4.2012 - C-83/12 PPU = NJW 2012, 1641 = juris RdNr 46). Wenn - wie hier - europarechtliche Bestimmungen gegenläufige Regelungen enthalten, ist deren jeweilige Wirksamkeit nur dadurch sicherzustellen, dass ihre Auslegung sich um einen angemessenen Ausgleich im Sinne einer praktischen Konkordanz bemüht (vgl Schlussanträge der Generalanwältin Kokott vom 8.9.2005 in der Rechtssache C-540/03 RdNr 39).
4. Nach der Rechtsprechung des EuGH ist bei der Gewährung von Sozialleistungen eine Ungleichbehandlung aus Gründen der Staatsangehörigkeit nicht generell und ausnahmslos mit Art 4 VO 883/2004 unvereinbar. Als rechtfertigender Grund ist die Notwendigkeit, die Finanzen des Aufnahmemitgliedstaates zu schützen, grundsätzlich ausreichend, um die Gewährung einer Sozialleistung an Staatsangehörige eines anderen Mitgliedstaates, die wirtschaftlich nicht aktiv sind, von besonderen Voraussetzungen abhängig zu machen (vgl EuGH vom 14.6.2016 - C-308/14 = juris RdNr 81).
5. Der Ausschluss von existenzsichernden Leistungen nach §§ 7 Abs 1 S 2 Nr 2, 23 Abs 3 SGB XII ist jedenfalls nach der seit dem 29.12.2016 geltenden Neuregelung verfassungsgemäß, da nunmehr ua eine Härtefallregelung zur Verfügung steht, die unabweisbar erforderliche Hilfen ermöglicht (vgl BVerfG vom 9.2.2001 - 1 BvR 781/98 = InfAuslR 2001, 229 = juris RdNr 25). Insbesondere ist kein Verstoß gegen Art 1 Abs 1 iVm Art 20 Abs 1 GG festzustellen (entgegen SG Mainz vom 18.4.2016 - S 3 AS 149/16 und BSG vom 30.8.2017 - B 14 AS 31/16 R = BSGE 124, 81 = SozR 4-4200 § 7 Nr 53, RdNr 48 f zu der bis zum 28.12.2016 geltenden Fassung).
6. Die Möglichkeit der Heimkehr eines vom Leistungsausschluss erfassten EU-Ausländers in sein Herkunftsland schließt einen Verfassungsverstoß grundsätzlich aus (vgl BVerwG vom 8.7.1988 - 5 B 136/87 ua = Buchholz 436.0 § 120 BSHG Nr 9 = juris RdNr 3; aA BSG vom 30.8.2017 - B 14 AS 31/16 R aaO zu der bis zum 28.12.2016 geltenden Fassung). Dem Gesetzgeber steht bei der Ausgestaltung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ein Gestaltungsspielraum zu, bei dessen Ausfüllung auch zwischenstaatliche Verträge zu berücksichtigen sind (vgl BVerfG vom 27.7.2016 - 1 BvR 371/11 = BVerfGE 142, 353 = SozR 4-4200 § 9 Nr 15 RdNr 36). Das verfassungsrechtliche Verständnis der Menschenwürde ist insoweit auch vor dem Hintergrund der "relativierten Bedeutung" des staatlichen Territoriums "im supranationalisierten Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts" iS der Art 67 ff AEUV (vgl BVerfG vom 30.6.2009 - 2 BvE 2/08 ua = BVerfGE 123, 267 = juris RdNr 344 f) im internationalen Regelungskontext in Bezug zu setzen.
7. Dem Ausschluss von Leistungen wegen fehlender Hilfebedürftigkeit steht grundsätzlich nicht entgegen, dass der Hilfebedürftige eigene Rechte im Ausland realisieren müsste. Unterlässt er dies, begegnet die Verweigerung existenzsichernder Leistungen in der Bundesrepublik Deutschland grundsätzlich keinen verfassungsrechtlichen Bedenken (vgl BVerfG vom 15.1.2007 - 1 BvR 2971/06 = juris RdNr 16 f).
8. Freiwilliges und eigenverantwortliches Handeln eines Grundrechtsträgers ist trotz der objektiv-rechtlichen Gestaltungsdimension der Menschenwürde bei der Frage des Vorliegens einer Verletzung dieses Grundrechts aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht unbeachtlich (vgl BVerfG ...