Entscheidungsstichwort (Thema)

Bewilligung von Leistungen der Grundsicherung für einen arbeitsuchenden Unionsbürger im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes

 

Orientierungssatz

1. Trotz des Leistungsausschlusses in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB 2 für arbeitsuchende EU-Bürger kann Arbeitslosengeld 2 gemäß § 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB 2 i.V.m. § 328 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB 3 vorläufig gewährt werden, weil die Frage, ob der Leistungsausschluss in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB 2 mit dem Grundrecht auf Sicherung des Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG vereinbar ist, eine entscheidungserhebliche Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung darstellt, die Gegenstand eines Verfahrens beim Bundessozialgericht ist. Aufgrund des existenzsichernden Charakters der Leistungen ist dabei das Ermessen in der Regel zugunsten der Leistungsgewährung "auf Null" reduziert.

2. Die Ausschlussvorschrift in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB 2 ist mit dem Grundrecht auf Sicherung des Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG und dem allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar, solange nicht in anderen Rechtsvorschriften ein hinreichend konkret ausgestalteter Leistungsanspruch auf existenzsichernde Unterstützung für die vom Leistungsausschluss erfassten Personen normiert ist.

 

Tenor

1. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller für die Zeit vom 02.09.2015 bis zum 30.11.2015 vorläufig und unter dem Vorbehalt der Rückforderung Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) in Höhe von monatlich 682,- Euro (399,- Euro Regelbedarf und 283,- Euro Bedarfe für Unterkunft und Heizung) zu gewähren.

2. Der Antragsgegner trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers.

 

Gründe

Der Antragsteller ist bulgarischer Staatsangehöriger und begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II), nachdem der Antragsgegner die Weiterbewilligung abgelehnt hat, weil sich der Antragsteller nach Ablauf von sechs Monaten seit der letzten Arbeitnehmertätigkeit nur zur Arbeitsuche in der Bundesrepublik Deutschland aufhalte.

I.

Der Antrag ist nach § 86b Abs. 2 und 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig, insbesondere hat der Antragsteller mit dem Schriftsatz vom 09.09.2015 das Verfahren selbst fortgesetzt; die Antragstellung durch die nicht vertretungsbefugte Bevollmächtigte ist gemäß § 73 Abs. 3 Satz 2 SGG wirksam. Der Antrag hat auch in der Sache Erfolg. Die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes in Form einer Regelungsanordnung gemäß § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG setzt einen Anordnungsanspruch, also einen materiell-rechtlichen Anspruch auf die Leistung, zu der der Antragsgegner im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet werden soll, sowie einen Anordnungsgrund, d.h. einen Sachverhalt, der die Eilbedürftigkeit der Anordnung begründet, voraus. Die Eilbedürftigkeit muss sich dabei auf die Abwendung wesentlicher Nachteile beziehen (§ 86b Abs. 2 Satz 2 SGG). Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO)). Dabei sind die Gerichte im einstweiligen Rechtsschutz hinsichtlich existenzsichernder Leistungen gehalten, die Sach- und Rechtslage abschließend zu prüfen und an die Glaubhaftmachung keine zu hohen Anforderungen zu stellen (Keller, in: Meyer-Ladewig, SGG, 11. Aufl. 2014, § 86b Rn. 2a). Ist die abschließende Beurteilung des geltend gemachten Leistungsanspruchs offen, weil etwa eine vollständige Klärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich ist, ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden, die insbesondere die grundrechtlichen Belange des Antragstellers berücksichtigt (Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Beschluss vom 12.05.2005, 1 BvR 569/05).

1. Der Antragsteller hat einen Anordnungsanspruch hinsichtlich vorläufiger Leistungen nach dem SGB II glaubhaft gemacht. An dem Vorliegen der Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 4 SGB II bestehen keine nennenswerten Zweifel, insbesondere ergeben sich aus der Erkrankung des Antragstellers keine relevanten Zweifel an der Erwerbsfähigkeit gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. § 8 SGB II. Einschlägig ist allerdings der in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II normierte Ausschlussgrund. Danach sind von der Leistungsberechtigung solche Ausländerinnen und Ausländer ausgenommen, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt. Dennoch folgt ein Anordnungsanspruch aus § 19 Abs. 1 Satz 1 und 3, Abs. 3, § 20, § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II in Verbindung mit § 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB II und § 328 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 des Dritten Buchs Sozialgesetzbuch - Arbeitsförderung (SGB III).

a. Zur Zeit nicht einschlägig ist § 328 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB III. Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 15.09.2015 in der Rechtssache C-67/14 (Alima...

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